„Guru“ – der Titel des Films ist programmatisch. Es geht zwar nicht um Gurus im Allgemeinen, sondern um einen Speziellen. Doch an diesem Speziellen erklärt sich explizit, worum es bei dieser Profession geht. „Guru“ bedeutet wörtlich: der Bringer des Lichts, und im Untertitel heißt es: „Bhagwan“, der Göttliche – ein Titel, den viele indische Gurus tragen, der aber im Westen durch Chandra Mohan Rajneesh bekannt wurde, jenen „Sex-“ oder auch „Rolls-Royce-Guru“, wie ihn die westlichen Nachrichtenmedien in den 1980ern tauften.
Nun, was ist ein Guru eigentlich? Der Film nähert sich einer Antwort, indem er zwei Ex-Anhänger von Rajneesh (später Osho) interviewt: seinen Bodyguard und seine Sekretärin. Ihre Darstellungen bilden das chronologische Gerüst. Zuerst Bombay, dann der Ashram in Poona, und schließlich die explosiven Ereignisse in Oregon, USA. Sheela, seine Sekretärin, beschreibt diese drei Stationen als „Flirt“, „Foreplay“ und „Action“.
Innerhalb dieser „Geschichte“ jedoch offenbart sich das eigentliche Thema, etwas Geschichtsloses! Den beiden Filmemachern ist etwas Erstaunliches gelungen. Etwas, das weit über die „Meinungen“ der Interviewten hinausgeht. Der Zusammenschnitt bleibt so fokussiert auf den Abgrund der Gurufigur, wie er wahrscheinlich noch in keiner Dokumentation offengelegt wurde. Nirgends ist eine Einflussnahme seitens der Regisseure zu spüren. Kalt, aber endlich einmal journalistisch korrekt, sezieren sie die Arbeit des Meisters. Kein Vorurteil trübt die Bestandsaufnahme. Weder die rosarote Schülerbrille noch die pseudo-investigativen Falschdarstellungen, wie sie z. B. beim „Spiegel“ über Jahrzehnte zu beobachten waren. Angenehm spürt man die Distanz der verflossenen Jahre. Die eingespielten Bilder aus den 70er- und 80er-Jahren sind grobkörnig. Geschichtsbildung könnte man sagen. Religionsgeschichte. Man versteht, dass die Angelegenheit abgründig ist, dass es einen gehörigen zeitlichen Abstand brauchte, um das Thema angemessen zu behandeln: Dieser Film konnte erst jetzt entstehen!
Zuerst ist es nur ein Buch, das den Philosophieprofessor berühmt macht: „From Sex to Superconciousness“. Damit ist das Seziermesser am erstarrten Religionsverständnis des ausgehenden 20. Jahrhundert angelegt. Ganz Indien redet davon. Und auch westliche Hippies fühlen sich angesprochen. Unter dem Druck der Zuströmenden muss Rajneesh sein Appartement in Bombay verlassen. Seine akademische Kariere hängt er an den Nagel, fängt bei null neu an. Und er macht sein eigenes Ding: Der Ashram zu Poona wird zur Legende eines freien modernen Lebens – die spirituelle Alternative zu den fragwürdig gewordenen politischen Ansätzen der Nachkriegsgeneration.
Alle denken: Das ist es. Doch niemand versteht Rajneesh. Er weiß, dass die wirklichen Machtpotenziale ganz anderer Natur sind. Freier Sex unter Palmen mag ein Anfang sein. Doch längst schon hat die Globalisierung begonnen. Menschen sind Kinder, die mit Atombomben spielen. Jemand muss die „Schleusen“ des Mahlstroms öffnen. Er redet jeden Tag vier Stunden lang. Aber wer versteht, wovon er zu sprechen nicht müde wird? Er hat nicht vor, als „indischer Guru“ in der Geschichtsschreibung einzugehen. Jemand muss es schaffen, allen Menschen zu zeigen, wer sie sind. Besser noch: wer sie nicht sind! Und das ist nur da zu machen, wo die Macht sich konzentriert: in Amerika.
Hugh Milne (der Leibwächter) fragt Sheela (die Sekretärin), für wie viele Menschen das Weideland in Oregon ausgewiesen ist, welches sie erstanden hat. Er schaut in ihr Gesicht und bemerkt, dass sie es nicht weiß. Man erfährt: Lediglich sechs Personen sind erlaubt, Rajneesh will aber 30.000 und gibt die Anweisung, nur Arbeitswillige einreisen zu lassen. Später den Auftrag, Abhöranlagen zu installieren. Wieder glaubt man zu wissen, wer Rajneesh ist, was ein Guru ist. Hugh Milne ist überzeugt, die Weiche gefunden zu haben, von wo ab alles in die falsche Richtung lief. Sheela schiebt die Schuld auf die Anhänger ihres geliebten Lehrers. Osho Rajneesh nimmt derweilen Lachgas.
Die Schlüsselszene des Films kommt, als eine tapfere Frau im Schutze der Pressekonferenz die Gretchenfrage stellt: ob Osho mit Sheela und ihren Anweisungen an die Kommune einverstanden gewesen sei. Es geht um Moral. Wenn der Guru trotz seines damaligen Schweigegelübdes die Strippen in der Hand gehalten hatte, dann musste Sheela seine Marionette gewesen sein und er der Verantwortliche. So denkt man. So funktioniert Ethik. Der Guru aber setzt noch einen drauf. Er antwortet süffisant, dass er höchst unzufrieden gewesen sei mit Sheela. Alle denken, werde er nun seine Finger in Unschuld waschen. Doch dann überzeichnet er unverschämt elegant den Bogen: Sheela hätte immer viel zu wenig von dem umgesetzt, was er ihr aufgetragen hatte. Alle lachen. Doch der nächste Filmschnitt lässt einem das Lachen im Halse stecken bleiben: Einige Wochen später verurteilt Rajneesh Sheela öffentlich für all die Aktivitäten, die sie in seinem Auftrag ausgeführt hat. Und setzt etwas hinzu, wozu er sie nicht instruiert hat: Mord! Mordverdacht an ihrem Ehemann. Mehrfacher Mordversuch in anderen Fällen. Der Abgrund ist offengelegt. Das Werk vollbracht. Das FBI übernimmt.
Der Film endet mit dem Ende der Oregon-Großkommune. In einem Nachspann erscheinen ein paar grobe Infos darüber, was aus Oshos Lebenswerk geworden ist. Sein Nachlass ist gewaltig und hat seine Wirkung bis heute nicht verloren. Sheela bekam damals vier Jahre Arrest. Hugh Milne versuchte Selbstmord zu begehen. Beide sensibel, intelligent, beide geschockt von ihrer Biografie mit Guru Rajneesh. Beide haben weder seine anschließende Weltreise, noch seine abschließende Arbeit in „Poona 2.0“ kennengelernt.
Es gibt eine Buchpublikation aus dem frühen Poona, wo im Inlay eine doppelseitige Reproduktion zu sehen ist mit der vor den Füßen des Meisters versammelten Schülerschaft. Alle sitzen aufrecht und meditieren. Nur eine Person liegt da und schläft. Sheela! Todmüde. Sicherlich überarbeitet. Ein Wink mit dem Zaunpfahl? Osho Rajneesh legte größten Wert darauf, jedes Detail seiner Bücher selbst zu gestalten. Alle aber entschuldigten Sheela, weil jeder wusste, wie hart sie arbeitete ...
Wissen Gurus, wie die Zukunft aussehen wird? Wahrscheinlich ist, dass sie nicht wollen, dass man das wissen kann. Sie jedoch können es, weil wir Menschen berechenbar sind wie Maschinen. So erschreckend berechenbar, gefangen in unseren Konditionierungen. Für uns ist es schwer zu akzeptieren, wenn ein Guru etwas mit dieser „Berechenbarkeit“ anstellt. Für ihn selbst hingegen ist alles jetzt. Für ihn bleibt alles offen. Selbst dann noch, wenn er sich für die schmutzigste Arbeit der Welt zur Verfügung stellt: uns unsere Projektionen als den selbstgemachten Wahnsinn zu spiegeln, den sie darstellen.
Titel: | Guru – Bhagwan, His Secretary & His Bodyguard |
Originaltitel: | |
Jahr: | 2010 |
Land: | Schweiz |
Regie: | Sabine Gisiger, Beat Häner |
Genre: | Dokumentation |
Im Netz: | www.gurufilm.ch |
Vertrieb: | Alive |