Edition H1 (Kunstbuch)

Schmallippiges Zukunftsszenario

Die kommenden Tage ... Die Welt wird friedlicher werden, gerechter, Krieg geächtet. Mehr und mehr entstehen Formen der demokratischen Mitbestimmung, Politikern wird verstärkt auf die Finger gesehen, Protest immer kreativer umgesetzt, die Menschen interessieren sich nach vielen schlimmen Erfahrungen mehr für die Entscheidungsprozesse, die sie unmittelbar betreffen und wachen nicht erst fünf Minuten nach zwölf auf. Berufspolitiker werden immer weniger geschätzt, wichtiger dagegen profilierte Mitbürger mit praktischem Wissen und Kenntnissen, die unmittelbar zur Problemlösung beitragen.

Die Bürger interessieren sich immer weniger für Rechts-Links-Arithmetik, sondern für Glaubwürdigkeit. Viele Fetische der sogenannten "Globalisierung" (Public-Private-Partnership, Cross-Border-Leasing u. ä.) werden von den Kommunen gestoppt bzw. rückgängig gemacht.

Zunehmend entstehen Parallelgesellschaften: Zum einen eine türkisch-arabische Community, die zahlenmäßig immer bedeutender wird, sich andererseits jedoch wenig für Probleme und Anliegen der indigenen Deutschen interessiert bzw. diese z. T. nicht nachvollziehen kann. Zum anderen Gemeinschaften von Menschen, die sich innerhalb der bestehenden "post-globalen" Gesellschaft frei auf vielfältige Art neu organisieren, z. B. in neuen Formen des (solidarischen) Zusammenlebens und Wirtschaftens, das sich vorwiegend an genossenschaftlichen Grundsätzen orientiert. Dies ist notwendig geworden, da die Arbeitslosigkeit noch größere, groteskere Ausmaße angenommen hat und die Kommunen immer weniger ihren Aufgaben nachkommen können: Schulen, Gebäude, Infrastruktur aller Art verfallen – während gleichzeitig die Arbeitsmöglichkeiten offensichtlich, aber innerhalb der bestehenden Finanzordnung nicht mehr bezahlbar sind. Da die Menschen keinen Sinn mehr darin sehen, zu Demonstrationen zu fahren (und teils auch kein Geld mehr dafür aufbringen können), beginnt man einfach eine "Parallelwirtschaft" einzurichten, zunächst auf Tauschbasis, dann immer mehr mit regionalen Parallelwährungen, die zunehmend an Bedeutung gewinnen. Viele dieser neuen Wirtschaftsräume gruppieren sich um mittelständische Betriebe, die mit neuen, intelligenten Technologien den Menschen konkrete Hilfe und Problemlösungsmöglichkeiten bieten. Das geht einher mit einer neuen Wertschätzung des ländlichen Lebens in Kleinräumen, während die traditionellen städtischen Großräume immer mehr ausdünnen und immer häufiger soziale und Rassenunruhen verzeichnen. Die indigene deutsche Bevölkerung stabilisiert sich auf relativ niedrigem Niveau. Die Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt hatten irgendwann nach einem Referendum um Aufnahme in die Schweiz gebeten. Dem war nicht stattgegeben worden, da die EU mit Rückendeckung der USA, obwohl finanziell in desolatem Zustand, mit Krieg gedroht hatte. Das wollte die Schweiz nicht riskieren; außerdem fürchtete sie um ihre Identität, da in den Gebieten der Antragsteller viele hochproblematische Ballungsgebiete lagen. Nachdem auch diese Türe verschlossen wurde, sieht die Bevölkerung keinen anderen Ausweg mehr, als sich auf sich selbst zu besinnen. Schon nach kurzer Zeit gibt es keine Arbeitslosen mehr. Die Menschen sammeln sich, je nach Kenntnissen und Fähigkeiten, um Projekte vor Ort durchzuführen: So schaffen es eine Reihe von Kommunen nach kurzer Zeit, in Teilschritten ihre zerfallenen Gebäude, Straßen, Schwimmbäder und Schulen wieder aufzubauen. Die Dörfer, Städte und Ortschaften waren der "Zentrale" in Berlin über Mietkäufe zu einer Zeit abgekauft worden, als der Bund noch verzweifelt nach immer neuen Geldquellen suchte, um die öffentlichen Schulden zu bedienen. Dass die Bundesrepublik Deutschland irgendwann in Insolvenz ging, war von vielen kaum noch beachtet worden, ebenso der Umstand, dass damit der EU die Basis entzogen war ...

Zugegeben – das war nicht der Inhalt des Films, den ich sah, es war lediglich eine Zukunftsversion, die ich noch etwas originell gefunden hätte, als Hintergrund natürlich für eine oder mehrere, wie auch immer geartete Liebes- und Problemgeschichten: Herzilein muss sein! Sonst täte sich das doch keiner an, das mit der Zukunft!

Den Schauspielern in "Die Kommenden Tage" ist allesamt nichts am Zeug zu flicken: Sie spielen überzeugend. Vor allem die Gesichter von Wokalek und Heerwagen sind unverbraucht, sprechend, schön, sind "eine Reise" ins Kino "wert".

Der Plot entwickelt sich in einer recht bürgerlichen Berliner Familie – weder Oberschicht noch Unterschicht wäre die richtige Kulisse gewesen; es geht nur ein paar Jährchen in die Zukunft. 
Man erfährt von "Veränderungen", dem "Ende der Sicherheit", gar dem "Zusammenbruch" und dem schließlichen "Sich-Einmauern" der Rest-EU als Maßnahme gegen zunehmende Flüchtlingsströme in wirtschaftlich immer schlechteren Zeiten.

Man hört von Kriegen, erst in Saudi-Arabien, dann in Asien mit Schwerpunkt in Turkmenistan. Es geht um "die letzten" verbliebenen Rohstoffvorkommen.

Die Kinder der Familie Kuper sind allesamt erwachsen, Laura, eine der Protagonistinnen, schreibt an ihrer Dissertation. Der Vater ist Rechtsanwalt. Dieser Hintergrund sollte eigentlich Diskussionen über das Weltgeschehen auf gewissem Niveau ermöglichen, doch das ist eine Erwartung, die leider unerfüllt bleibt.

Gesprächsstoff gäbe es eigentlich genug, denn es herrscht Terrorismus vor: Nein, nicht der islamische und auch nicht der pseudo-islamische von allerlei Geheimdiensten inspirierten oder initiierten Terrorismus, sondern – ein Deja-vu? – eine Art neue RAF namens "Die Schwarzen Stürme". Diese sind nicht so sympatisch, denn sie veranstalten ungute Flashmobs. Aber es kommt noch schlimmer: Sie wehren sich gegen die "Rohstoffkriege", etwa mit Demos und Internetsabotageaktionen.

Der drogensüchtige Sohn der Familie Kuper entschließt sich clean zu werden und der Bundeswehr bei- und damit in den Krieg einzutreten. Das schlägt kaum Wogen in der Familie. In gefasster Eintracht findet man sich zur Gelöbnisfeier ein. Erstaunlich! Das Deja-vu kann sich also nicht nur auf Geschehnisse des deutschen Herbstes beschränken. Es geht noch weiter in die Geschichte zurück! So gefasst ging man zuletzt in den Zweiten Weltkrieg. Sollte das wieder Zukunft sein? Umso erstaunlicher ist diese Gefasstheit der Kupers, da Lauras Schwester Cecilia und ihr Freund Konstantin mit den neuen Terroristen sympathisieren (die treibende Kraft ist allerdings der Freund).

Das mit den" Schwarzen Stürmen" etwas nicht o.k. ist, merkt man unschwer daran, wie bescheuert ihr "Vereinslokal" eingerichtet ist. An den Wänden der düsteren, hippihaften Räumlichkeiten hängen allerlei Ethnokitsch, Dunkel-Esoterisches und sonstwie Geschmackloses. Hier wird denn auch Böses ausgebrütet:

Ein Terroranschlag unter falscher Flagge! Abgesehen von den Beziehungs- und Liebesproblemen, die obgleich z. T. arg konstruiert erscheinend, dennoch konsumierbar sind und daher hier nicht verraten werden sollen, ist das auch der einzige Winkelzug. Alles andere kommt reichlich plakativ daher. Viel ärgerlicher ist jedoch, dass Lars Kraume (Buch und Regie) nicht konsistent bleibt: Einerseits holt er die Hintergrunddramatik aus der von ihm offensichtlich als Tatsache gesehenen Annahme der unerbittlichen Verknappung – dass es Kriege um die "letzten" Rohstoffe geben wird. Andererseits wird gegen Ende des Films beinahe nebenher mehrfach erwähnt, dass sich der Krieg eigentlich gar nicht mehr lohne, da es immer mehr Sonnenenergiegewinnung gebe, so sehr, dass sich die Bürger schon über die allgegenwärtigen Parks beschweren. Ja was denn nun? Kraume konstruiert einen Spannungsbogen, pumpt einen Luftballon auf, um dann selbst reinzupieken.

Der Film zeigt an vielen Stellen eindrücklich den wirtschaftlichen Niedergang, Armut, Verfall, ohne sich jedoch darauf einzulassen, ein wenig zu erläutern, wo dieser herrührt. Das ist schmallippig. Es ist auch nicht nachvollziehbar, mit welchem Geld die schwarzafrikanischen Flüchtlingsströme ausgerechnet in die Alpen ziehen. Mein Tipp wäre die Mittelmeerküste gewesen, schon allein wegen des Klimas. Aber das sind wohl kleinkarierte Details.

Am meisten hat mich der Pessimismus genervt, mit dem der Film für die Zukunft unterstellt, dass als Reaktion auf die Krise der kommenden Tage natürlich nur ein idiotischer Sprengstoffterrorismus in Deutschland entstehen wird, keine andere, wie auch immer geartete, intelligente, kreative Form der Opposition, nein, es werden Taschen mit Sprengstoff unter Tische in überfüllten Lokalen gestellt. Und natürlich von "echten", verblendeten Terroristen, nicht etwa von routinierten Schlapphüten. Das wäre vermutlich eine zu moderne Variante des alten Themas gewesen.

Nichtsdestotrotz: Ruhig mal anschauen!

Titel: Die kommenden Tage
Originaltitel: Die kommenden Tage
Jahr: 2010
Land: Deutschland
Regie: Lars Kraume
Genre: Drama, Science-Fiction
Im Netz: www.diekommendentage-film.de
Vertrieb: Universal Pictures

→ Diesen Film auf DVD erwerben


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