Schon seit Wochen hatte ich begeisterte, überschwängliche Rezensionen gelesen. Etwa solche:
„Ein Film, der träumen lässt, der das eigene Sehen, Empfinden zum Schwingen bringt, in einer so weiten wie stillen Welt. Es fühlt sich an wie Wind, wie Sauerstoff, nach allzu langer Konservenluft. Oder wie Sonne, die durch den Wald aus wunderbar turmhohen Bäumen fällt. Dass das Summen von Bienen, das Flattern von Vogelflügeln, das Knacken von Ästen im Wald so aufregend sein kann – das ist eine unvergessliche Erfahrung.“ (Tagesspiegel)„Schön wie ein mediterranes Gedicht aus einer vergessenen Zeit (…) Bora Altaş verkörpert den kleinen Yusuf so, dass man ihn auf der Stelle adoptieren möchte.“ (Libération)
„Was Schönheit ist, das kann man in Bal – Honig erfahren. Die Tönungen der Bilder, ihr Kontrastreichtum, ihre Tiefenschärfe, ihre an Stillleben erinnernde, vollendete Komposition sind das eine. Das andere ist die unendliche Ruhe, mit der die Bilder auf der Leinwand verbleiben – ihre Dauer entlässt den Zuschauer aus der subjektiven Perspektive der Personen, sie bannt ihn in Distanz. Die Bilder der Natur stehen zu Yusufs Seelenleben weder in einem altbacken symbolistischen noch in einem expressiven Verhältnis: Hügel, Wald, Tal und Fluss sind Yusuf ein schweigendes Gegenüber, eine Wesenheit, die jede Bewertung souverän ablehnt. Ihre letzte Berechtigung hat die dokumentarische, distanzierende Schönheit von Bal – Honig darin, dass sie nichts verklärt. (...) Aber so viel man auch erklären und theoretisieren will: Am Ende besiegelt die Schönheit das Geheimnis einer kindlichen Seele. Dieses Geheimnis macht Bal – Honig zu einem großen Film.“ (Berliner Zeitung)
„Manchmal genügt die erste Einstellung eines Films, um zu erkennen, ob man es mit einem großen Filmemacher zu tun hat. In Bal – Honig ist alles bewundernswert. Es ist lange her, dass man einen Film gesehen hat, der die Sinne so sehr in Anspruch nimmt. Die Tonspur ist unglaublich reich. Wenn ein Ast knackt, hat man das Gefühl, wirklich im Wald zu sein. Das Summen einer Biene befreit das Ohr von den Ablagerungen der letzten zehn Blockbustern. Die Bilder stehen dem in nichts nach. Und zu allem Überfluss: Was ist die Geschichte dieses kleinen Jungen bewegend!“ (L’Humanité)
Man kann sagen, ich war eingestimmt und erwartungsfroh, als ich mich in dem völlig überfüllten Kinopolis-Saal niederließ. Vorsorglich hatte ich innerlich schon einmal auf einen langsamen Gang zurückgeschaltet, mich in meditative Stimmung versetzt und freudig einem "anderen" Film, ohne Äktschen, Hektschen und Malträtierung meiner Ohren und Sehnerven, entgegengesehen.
Das einzige Spannungsmoment des Films findet sich in seinen ersten Minuten. Das kann man jedoch am Anfang noch nicht ahnen. Mit "Spannung" ist auch die in der Tat außergewöhnlich plastische Tonspur gemeint, die mindestens ebensolche Bedeutung hat, wie das Visuelle. Dabei kommt der Film fast ohne Dialoge aus. Beinahe nebenbei komponiert sich ein "Hörstück" aus allerlei Naturgeräuschen, Bewegungen im Haus wie Küchengeräusche und Knarren des Holzes, des Feuers, des Gebälks, das dem üblicherweise in Filmen eher vernachlässigten Ohr auch einmal zu seinen Rechten verhilft. Man kann nur hoffen, das solches in der Filmkunst Schule macht, zumindest in einem bestimmten Genre.
Die Gebirgslandschaft ist wunderschön, der gezeigte Wald ebenso, die Wiesen ebenso, das alte Holzhaus ebenso; letzteres wirkt wie eine schön komponiertes Gemälde, das wir betreten können.
Und damit bin ich eigentlich schon am Ende angelangt. Und darin liegt das Problem. Denn hervorragende Naturfilme mit wunderbarem Ton wurden und werden immer wieder gedreht. Es wird mit zunehmender Länge jedoch immer nerviger, die immer gleichen Gemälde beschauen zu müssen – denn wie in einem gemalten und durchkomponierten Bild spielt sich auf ihm eigentlich nichts ab. Spätestens nach einer Stunde kommt Bedrückung und innere Unruhe auf, denn: Der Film kann nicht als reines Naturprodukt konsumiert werden, es treten schließlich Vater, Mutter, Kind als Hauptdarsteller auf. Und wir haben es mit einem Konflikt zu tun: dass der Vater von seiner Suche nach besseren Bienenplätzen nicht zurückkehrt. Was passiert ist, das weiß der Zuschauer bereits, der Film präsentierte es ihm schon in der Eingangssequenz, daher kann man von "Spannung" im eigentlichen Sinn nicht mehr reden. Merkwürdigerweise baut sich auch bei den noch Verbliebenen – Mutter und Sohn – keine besondere Spannung auf; allenfalls das Schweigen wird noch dichter.
Spätestens ab diesem Punkt können die Darsteller nicht mehr als "archaisch", "geheimnisvoll" oder irgendwie aus einer antiken mediterranen Szenerie entstammend angenommen bzw. akzeptiert werden. Die Figuren wirken in ihrer Schwerblütigkeit plötzlich plump bzw. tumb, ja fast marionettenhaft, was auch durch das merkwürdig lebloses Sich-Bewegen des Sohnes unterstrichen wird, der immer nur mit eng am Körper angelegten Armen herumgeht.
Der Vater hatte versprochen, nach zwei Tagen wieder daheim zu sein. Bei aller Liebe zum Archaischen, Einfachen, Reduzierten, Ländlich-Zurückgebliebenen: Sollte bei dem Ausbleiben des Vaters und Ehemannes, eines vormodernen Menschen, der sich nur im Flüsterton gelegentlich mit seinem Söhnchen unterhält und einen streng geregelten, fast ritualhaften Tagesablauf pflegt, den die Tonspur auch immer wieder aufzeichnet, also in Geräuschen und Klängen zusammenträgt, sollte nicht bei dessen Ausbleiben ein Kulminationspunkt eintreten, irgendetwas in den Emotionen der zukünftigen Hinterbliebenen umschlagen in Sprache oder gar Handlung?
Der Sohn ist, wie im ländlich-bäuerlichen Leben üblich, der Lehrling und Handreicher des Vaters, er weiß, wo sein Vater sich aufzuhalten pflegt. Weder er noch seine Mutter artikulieren Sorge, teilen sich mit, holen Hilfe, man wartet tagelang und der Zuschauer gleich mit. Es herrscht eine Sprachlosigkeit, die man zunehmend als geistige Lähmung und Überzeichnung empfindet, so als sollte das Ominös- Archaische bis zum letzten Atemzug des FIlms durchgehalten werden.
Groteskerweise suchen Mutter und Sohn den Vater nicht in der wilden Waldeseinsamkeit, wie es der inneren Logik des Films entsprechen würde, nein, sie suchen ihn unter den Tausenden Besuchern eines wild-fröhlich-ländlichen türkischen Volksfestes. Man gewinnt den Eindruck, dass sie nur dort suchen, damit der Zuschauer dieses Fest irgendwie zu sehen bekommt.
Als die Gendarmerie gegen Ende des Filmes die Todesnachricht überbringt, weiß der Sohn plötzlich ganz genau, wo er hinlaufen muss, um den Sterbeort seines Vaters im Wald zu finden ...
Ich bin ein ausgeprochener Freund auch langsam getakteter Filme, lechze keineswegs nach Action, aber ich habe mich selten so nach lebendigen Menschen gesehnt wie nach diesem Leinwandopus. Menschen, die nicht für eine Film in versteinerte, verlangsamte Klischees verwandelt werden, nur um einer westlichen Erwartungshaltung nach Stille, unverfälschter Natur, Einfachheit, Ruhe und Meditation nachzukommen.
Ich habe zwei Stunden bis zum Schluss durchgehalten. Von Langweile und Verdruss gepeinigt, verließ ich das Kino.
Ziemlich unverständlich wurden mir im Nachhinein einige der oben zitierten Rezensionen der Presse: So ist bei näherem Besehen z. B. die der Berliner Zeitung kaum nachvollziehbar: Durch die anhaltende Ruhe werde der Zuschauer aus der subjektiven Perspektive der Personen entlassen. Wie geht das? Das Werk zeigt subjektive Perspektive so gut wie überhaupt nicht. Die Mutter bleibt fast völlig gefühl- und gesichtslos, der Vater verschwindet – und der Sohn? Der ist einfach der beste Freund seines Vaters und ein herziger Bub. Mehr kann man beim besten Willen nicht behaupten. Die einzige Geste des Sohnes ob des Ausbleibens des Vaters, die ungewöhnlich ist, bleibt allein das Austrinken seines Milchglases. Das war's. An diesem Punkt hätte der Regisseur eine Erzählung vom wortkargen Söhnchen einbringen können, das sich aufmacht, den Vater im Wald zu finden. Das Zeug dazu hätte das Kind gehabt, folgt man der bisherigen Darstellung des Films. Er sitzt die Lage jedoch aus.
"Am Ende besiegelt die Schönheit das Geheimnis einer kindlichen Seele."
Mal ganz ehrlich: Wie soll das denn gehen? Es wird geschwurbelt, was das Zeug hält, wenn es um einen langweiligen, zähen, künstlich-verlangsamten,mühevoll sich dahinwindenden Film vor großartiger Naturkulisse geht.
Ich für mein Teil lehne es ab, ein Stück Kino nur deshalb gut zu finden, weil er von einem eher unbekannten türkischen Regisseur, Semih Kaplanoğlu, gedreht wurde, schöne Landschaftsaufnahmen, eine streckenweise außergewöhnliche Tonspur aufweist und eine pseudo-archaische Welt mit beklemmender Langatmigkeit zu beschwören sucht.
Ich musste nach Filmschluss einige Male kräftig durchatmen, um mich wieder in Schwung zu bringen. Trotzdem: Es ist nicht ausszuschließen, dass dieser Film mit anderen Menschen anderes tut, vielleicht nehmen ihn manche wie eine entspannende Yoga-Übung oder eine Reiki-Sitzung wahr? Oder gar, wie von der Kritik vorgeschlagen, wie eine Meditation? Möglich wär's.
Titel: | Bal – Honig |
Originaltitel: | Bal |
Jahr: | 2010 |
Land: | Türkei, Deutschland |
Regie: | Semih Kaplanoğlu |
Genre: | Drama |
Im Netz: | www.bal-der-film.de |
Vertrieb: | Pfiffl Medien |