Krieg als Kulturerscheinung zu verstehen, wird in Zukunft hoffentlich passé sein. Nicht nur, weil das entgrenzte Raumverständnis der Globalisierung nationalstaatliche Auseinandersetzungen (wie aktuell schon in Europa) nur noch auf diplomatischen Wege zulassen. Mehr noch ist zu wünschen, dass Menschen in Zukunft genügend Abstand von mit Waffengewalt geführten Streitigkeiten haben werden.
Nun, wie unbewusst stolz wir auf eine Kultur sind, die den Samen der Vernichtung in sich trägt, das führt uns Michael Hanekes Film "Das weiße Band" vor. Es ist genial, wie der Regisseur Vergangenheit zitiert, um an ihr unsere Ahnungslosigkeit zu demonstrieren. Sein Kunstgriff besteht darin, dass er das kommende Grauen anhand einer Nebensächlichkeit verdeutlicht, die am Vortag des ersten Weltkriegs geschieht. Das Kameraauge zeigt im photogenen und zeittypischen Schwarzweiß nicht mehr als ein hübsches Dorf. Eine kleine Anzahl exemplarischer Rollen – wie Arzt, Bauer, Lehrer, Großgrundbesitzer, Hausmädchen etc. – treten darin auf. Und schon bald ist klar: Hier wird die Zivilisation als Ganzes verhandelt.
Bekanntlich hat es nach Auschwitz erst einmal eine Zeit gegeben, in der keine Gedichte mehr geschrieben werden konnten. Es mussten Erklärungen gefunden werden, das Unvorstellbare zu verarbeiten. Nun also Hanekes Fingerzeig: Ein weißes Band, das Unschuld will und Verderben weitergibt. Dessen Symbolik reicht über 1945 hinaus – bis ins Heute. Eine Zeitspanne, die mit verstummten Zeitzeugen und einer rebellierenden Jugend verstreichen mussten.
Kann und darf eine Erklärung so einfach sein? Sicher nicht – Haneke belässt es dennoch dabei. Der ganze Film als Andeutung. Mehr nicht. Und doch beginnt man instinktiv zu verstehen, dass Gefühllosigkeit jener Schlüssel ist, zu elementar, um weiterhin ignoriert zu werden. Die RAF hätte den Film nicht gemocht. Und ja, es mussten 64 Jahre ins Land gehen, damit wir so tief blicken können. Hinein in die Tatsache, dass unsere Kultur Verletzlichkeit, Zartheit, Empfindsamkeit bislang nicht in der Lage war gebührend zu respektieren, zu verstehen oder gar zu lehren. Im Gegenteil: Dem Film nach – das Drehbuch schrieb Haneke selbst – war nahezu der gesamte westliche Kulturanspruch vom einer scheinheiligen Autorität untergraben: der des Mannes. Was Kinder verdarb und Frauen erdulden mussten, ist nicht weniger als das, was das Patriarchat unter Humanität verstanden hatte, bevor es in der Zeit zwischen 1914 und 1945 endgültig zerrieben wurde.
Natürlich ist die Darstellung zu einseitig-künstlerisch, um in einer wissenschaftlichen Diskussion bestehen zu können. Auch formal lässt die BR-Produktion eine deutliche Spur von Surrealismus nicht vermissen: Die Dorfkinder wirken wie Außerirdische. Es geschehen seltsame Dinge. Vieles bleibt unerklärt. Und doch versteht man Michael Haneke: Die Weltkriege waren kein Zufall. Sie waren unvermeidlich. Im Dorfleben wird die kommende Gewalt vorweggenommen. Warum? Weil wir uns selber nicht verstehen. Wir haben Kultur! Aber wir wissen nicht, wer wir sind. Wir fühlen nicht. Wir denken, Krieg sei heroisch, männlich, siegreich.
Heute noch muss man den Menschen bei hellem Sonnenlicht mit der Taschenlampe suchen gehen. Durch Filme wie diesen haben wir Gelegenheit, als historisches Missverständnis auf uns selbst zu schauen. Doch haben wir auch den Mut dazu?
"Das weiße Band" ist gleich in zwei Kategorien für den Oscar nominiert worden: als bester nicht-englischsprachiger Film und für die beste Kamera. Die Oscars werden am 7. März 2010 in Los Angeles verliehen.
Filmtitel: | Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte |
Originaltitel: | |
Jahr: | 2009 |
Land: | Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien |
Regie | Michael Haneke |
Genre: | Drama, Kriegsfilm |
Im Netz: | www.dasweisseband.at |
Vertrieb: | Warner |