Edition H1 (Kunstbuch)

Abrechnung mit dem westlichen Wertekanon

Das Evangelium des Pi von Ang Lee ist eine Abrechnung mit dem westlichen Wertekanon. Eine vergleichende Kulturkritik, eine Kampfansage. Für feinfühlige Zeitgenossen ist der Film die erste geopolitische Prophezeiung zugunsten Asiens, die sich nicht kritiklos anbiedert. Selbstbewusst verschiebt Lee den Schwerpunkt der Welt in Richtung eines Kontinents, dessen Religionserbe nach wie vor unterschätzt wird.

Dem Buch zum Film wurde weltanschaulicher Kitsch vorgeworfen. Der Regisseur hatte sichtlich Freude daran, dieser Kritik ins Gesicht zu spucken: Religiöse Inhalte in einen Wettkampf mit schnulzigen Bildern zu schicken, ist – Computer-Generated Imagery sei Dank – das Gebot der Stunde. In einer Schlüssel-Szene lässt Ang Lee den asiatischen Tiger so nachdrücklich auf seinen im Boot Mitgefangenen urinieren, dass es diesen vom Deck in den Ozean fegt.

Dieser, seines Namens zufolge selber als Pisser gehänselt, erleidet auf hoher See das christliche Martyrium in einer Öko-Fassung: Nachdem die „Arche Noah“ seines atheistischen Vaters havarierte, findet sich Pi mit einer fleischfressenden Bestie in einer Nussschale auf einer grenzenlosen Wasserwüste wieder. Die wenigen Quadratmeter zu teilen bedeutet für den Filmemacher nichts anderes, als Kirche, Mosche und Tempel mit einer existenziellen Praxis zu vertauschen, die kein Ausweichen für die anstehende Todesbereitschaft zulässt.

Doch siehe da, der Tiger wird gezähmt, die Freundschaft zwischen Natur und Kultur wieder hergestellt. Warum? Weil der Protagonist in einer LSD-artigen Transzendenz eine schwimmende Naturinsel erreicht, welche nicht zufällig die Form einer schlafenden Göttin hat. Und natürlich, weil Pi nicht nur mit allen ökumenischen Wassern dieser Welt gewaschen ist, sondern auch den profanen Ratschlägen seines Vaters zu gehorchen lernte.

Das klingt nach Happy End und ist auch eines. Doch nicht ohne den Westen zuvor zurechtgewiesen zu haben: In einer zweiten Version, zu der Pi von japanischen Versicherungsangestellten (symbolisch die radikalsten Adepten des westlichen Way of Life in Asien) gezwungen wird, staffierte er die Poesie seiner Tiergeschichte mit bestialischen Menschen aus. Das personifizierte Böse in diesen Tierfilm spielt Gerard Depardieu: Als fleischmordender Koch steht er für die dekadente alte Welt in diesem Film, der durchweg auch als vegetarische Visitenkarte Asiens gelesen werden kann.

Am Ende stellt der Erzähler und Überlebende beider Geschichten die Frage, welche Version die Schönere sei? Die Botschaft des Films: Die poetischste Antwort ist die Schönste. Und die Schönste ist auch die Überlegenere!

Titel: Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger
Originaltitel: Life of Pi
Jahr: 2012
Land: USA
Regie: Ang Lee
Genre: Drama
Im Netz: www.lifeofpimovie.com
Verleih: 20th Century Fox

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