Mehr direkte Demokratie: Ausweg aus zunehmender Politikverdrossenheit und sinkender Wahlbeteiligung?

Von FRIEDERIKE BECK

Wie konnte es dazu kommen, dass die etablierten Parteien in unserer parlamentarischen Demokratie derart viel Macht erlangten? Warum wurden in Deutschland auf Bundesebene nicht längst Volksabstimmungen eingerichtet, wie es das Grundgesetz fordert? zeitgeist-Autorin Friederike Beck begab sich auf einen Streifzug durch parteipolitische Gefilde und deckte dabei zahlreiche weitere Missstände auf, die dem braven Bürger üblicherweise verborgen bleiben: etwa was die Parteienfinanzierung anbelangt und wie es tatsächlich hierzulande um die Gewaltenteilung bestellt ist. Einmal mehr stellt sich die Frage: Wer wacht über die Wächter?

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Demokratie ist Regierung
durch das Volk für das Volk.“

Abraham Lincoln

Unmittelbar nach seiner Wiederwahl zum Bundespräsidenten am 23. Mai 2009 sprach sich Horst Köhler für eine Stärkung der direkten Demokratie in Deutschland aus. Als Beispiele nannte er eine Direktwahl des Staatsoberhauptes, Volksinitiativen auf Bundesebene und Mitspracherechte der Bürger bei Verfassungsänderungen.

Man hebt überrascht den Kopf und möchte dreimal laut „Ja“ rufen, „gerne sofort!“ Der in Deutschland allgemein beliebte Köhler bewies mit seinen Vorschlägen erneut Volksnähe. Wie DIE WELT weiter berichtete, halte Köhler „es für einen Ausdruck von Beklemmung oder Unsicherheit, wenn man bei dieser Frage sofort auf Hindenburg verweist.“

Die Etablierten schafften es, diesen Schlag in das Gesicht des Wählers weitgehend aus den Massenmedien herauszuhalten

Die kalte Dusche für den hoffnungsvollen Bürger folgte denn auch prompt: Angela Merkel erschien selbst in den Nachrichten, um mitzuteilen, dass es „kein Geheimnis“ sei, dass sie gegen eine direkte Beteiligung der Bürger und Volksentscheide sei; kurz: Auf Köhlers Anregungen reagierten „Politiker bis hin zur Bundeskanzlerin mit schroffer Ablehnung."1

Die Bundeskanzlerin vermutete, dass durch eine Direktwahl des Bundespräsidenten „die gesamte Statik des deutschen Staatsaufbau massiv verändert“ werde (ein viel einschneidender Umbau droht jedoch mit dem Lissaboner Vertrag, wovon die breite Mehrheit der Bevölkerung noch gar nichts ahnt!). „Auch bei CSU, SPD und Grünen stieß Köhlers Idee auf rigorose Ablehnung. Nur die FDP unterstützte den Vorschlag.“ Mehr plebiszitäre2 Elemente wie Volksinitiativen und Volksentscheide können sich auf Bundesebene zumindest die CSU, die Grünen, die Linke und die SPD vorstellen.

Positionen der etablierten Parteien zur Volksabstimmung

Parteien

CDU (Angela Merkel)

CSU

SPD

Grüne

LINKE

FDP

Direktwahl des Bundespräsidenten

Nein

Nein

Nein

Nein

Ja

Ja

Mehr plebiszitäre Elemente wie Volksinitiativen und Volksentscheide auf Bundesebene

Nein

Ja

(Ja) Parteigeneralsekretär Hubertus Heil kann über Grundrechte in der Verfassung und über den Kurs der Außen- und Sicherheitspolitik nicht durch das Volk abgestimmt werden!

Ja

Ja

Ja

Die Initiative Köhlers und die positive Einstellung der Mehrheit der politischen Parteien zumindest, was die Einführung von mehr plebiszitären Elementen anbelangt, könnte hoffen lassen. Dennoch handelt es sich hier vorwiegend um (wohlfeile) Worte. Insbesondere die FDP nimmt die Lage zum Anlass, sich risikolos zu profilieren – denn eine diesbezügliche Verfassungsänderung benötigte eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag … Was aber sind die Taten?

Angela Merkel: Kein Geheimnis – die Bundeskanzlerin ist strikt gegen jede Form direkter Demokratie (im Bild neben Ex-US-Außenministerin Condoleeza Rice). Die Vereinigten Staaten sind in punkto Volksabstimmung um einiges fortschrittlicher als Deutschland

Zum Zeitpunkt dieser Stellungnahmen hatten sich CDU und SPD in ungewohnter Einigkeit erst vier Wochen zuvor (entgegen dem Wahlprogramm der SPD und dem Koalitionsvertrag von CDU und SPD von 2005) erneut einstimmig gegen mehr partizipative Elemente für unsere Demokratie ausgesprochenund damit einen Gesetzesentwurf von FDP, Grünen und der Linkspartei abgewehrt. Man war also wortbrüchig geworden. Die Etablierten schafften es, diesen Schlag in das Gesicht des Wählers weitgehend aus den Massenmedien herauszuhalten, sodass es (im Wahljahr!) nicht einmal zu einer öffentlichen Diskussion darüber kam. Überdies muss sich das Volk, das Umfragen zufolge sei Jahren mit einhelliger Mehrheit für mehr Demokratie plädiert, laut „Spreegurke“ vom 29.4.2009 von dem CDU-Abgeordneten Ingo Wellenreuther noch sagen lassen, dass Volksentscheide ein „primitives Verfahren“ seien. „Mit Blick in die Vergangenheit und speziell auf die Weimarer Republik ist er ganz sicher; ‚Volksabstimmungen bergen die Gefahr des Missbrauchs und der politischen Destabilisierung.’“

Ist das so? Oder ist es vielleicht genau anders herum? Befördert vielleicht gerade die Verweigerung von mehr direkter Mitbestimmung durch das Volk die Gefahr des Missbrauchs durch die politische Klasse?

„Schroffe Ablehnung“ also. Ein Grund mehr, hier einmal genauer hinzuschauen und vor allem das Hauptargument gegen verstärkte Bürgerbeteiligung – „Weimarer Republik“, „Hindenburg“ – zu überprüfen, welches den Bürgern bei entsprechenden Diskussionen stets dunkel-mahnend entgegengehalten wird. Liegt hier tatsächlich eine schwerwiegende politische Schuld unserer Urgroßväter vor, durch die wir die direkte Demokratie quasi schon damals, nach dem Ersten Weltkrieg, unwiderruflich verspielten?

Was sagt zunächst das Grundgesetz? Es legte in Artikel 20 fest: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Weiterhin, dass die Parteien bei der politischen Willensbildung „mitwirken“sollten (Art. 21). Die von der Verfassung vorgesehene „Mitwirkung“ ist mittlerweile zu einer Monopolstellung mutiert. Viele Bürger haben das Gefühl, dass ihr Kreuzchen nur noch benötigt wird, damit alles so weitergeht wie bisher, dass sie im Grunde keinen Einfluss mehr auf den Lauf des politischen Geschehens nehmen können, dass sie eigentlich nur stören und man ihnen auch noch ungeniert zuruft: „Wir müssen leider draußen bleiben!“

Die von der Verfassung vorgesehene „Mitwirkung“ ist mittlerweile zu einer Monopolstellung mutiert

Die Bürger fühlen sich immer weniger von Politikern „vertreten“. Das zeigt sich u. a. daran, dass sich einhellige Mehrheitsmeinungen, die immer wieder von Umfrageergebnissen bestätigt werden, nicht in politischen Entscheidungen widerspiegeln, sondern geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden. Einige Beispiele:

  • Eine ganz überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung lehnt Gentechnik ab. Dieser Überzeugung kam Bundeslandwirtschaftministerin Ilse Aigner vor kurzem nach, indem sie den Genmais MON810 (Monsanto) verbot – so dachte man wenigstens. Zwei Wochen nach dem Verbot jedoch wurde bereits die genmanipulierte Nachfolger-Maissorte in Unterfranken zur Aussaat gebracht, das Gen-Verbot habe sich ja „nur“ gegen den Vorläufer gerichtet … Doch damit nicht genug: Ebenfalls darf jetzt die genmanipulierte stärkereiche „Amflora“-Kartoffel (BASF) angebaut werden, obwohl es herkömmlich gezüchtete Kartoffeln gibt, die ebenfalls einen hohen Stärkeanteil aufweisen.

  • Eine klare Mehrheit der Bevölkerung spricht sich immer wieder gegen den Einsatz der Bundeswehr im Afghanistan-Krieg aus. Trotzdem stimmt der Deutsche Bundestag immer wieder für eine Ausweitung des Kriegseinsatzes (verharmlosend „Engagement“ oder „(Friedens-)Mission“ genannt).

  • Eine Online-Petition mit Rekordbeteiligung (über 130.000 Stimmen innerhalb weniger Wochen) hatte sich gegen die von Ministerin Ursula von der Leyen initiierten Internetsperren gegen Kinderpornographie gewandt. Begründung: Die geplanten Sperren lieferten nur das Instrumentarium in Zukunft auch andere Inhalte zu sperren. Dagegen müssten die illegalen Inhalte gelöscht und die Verursacher zur Rechenschaft gezogen werden – nicht dem Internetnutzer eine „Filterbrille“ aufgesetzt werden. Der Bundestag stimmte ungerührt vor wenigen Wochen für die Internetsperren (siehe auch den Beitrag „Kinderpornographie: Ist das Internet wirklich das Problem?“)

Kann es Wunder nehmen, dass die Politikverdrossenheit steigt und der Bürger sich immer weniger „vertreten“ fühlt? Die Parteien werden regelmäßig „abgestraft“: Mitgliederschwund bei den „Volks“-Parteien, sinkende Wahlbeteiligung: eigentlich Zeit, nachzudenken.

Weimarer Republik, der Deutsche Reichstag in Berlin: Die Anzahl der Abgeordneten richtete sich nach der Wahlbeteiligung. Eine gute Idee für Deutschland 2009?

Das tat z. B. Hans-Jürgen Papier, Präsident des höchsten deutschen Gerichtes, wiederholt in Interviews: Auf die Frage von BILD „In Deutschland laufen den Volksparteien die Mitglieder davon, bei den letzten Landtagswahlen ist die Wahlbeteiligung auf ein Rekordtief gesunken. Was bedeutet es für die Demokratie, wenn immer weniger Bürger mitmachen?“ entgegnete der Verfassungsrichter schon 2006: „Sie beschreiben eine Entwicklung, die mich sehr beunruhigt. Die parlamentarische Demokratie lebt davon, dass den demokratischen Strukturen und der gewählten politischen Führung ein Grundvertrauen entgegengebracht wird. Ich beobachte eine erhebliche Beeinträchtigung dieses Grundvertrauens.“

Kann es Wunder nehmen, dass die Politikverdrossenheit steigt und der Bürger sich immer weniger „vertreten“ fühlt?

Und am 3.5.2009 auf die Frage von BILD „Wie kann man Demokratie und Wahlen wieder attraktiver machen?“„Der Wähler sollte mehr Einfluss nehmen können auf die personelle Zusammensetzung des Parlamentes, etwa durch eine Lockerung des strikten Listenmonopols der Parteien … Es könnte den Wählern ermöglicht werden, innerhalb der Landeslisten mehrere Stimmen für einen Kandidaten abzugeben oder die Reihenfolge der Kandidaten zu verändern.“

BILD: „Sollte es auch möglich sein, mehrere Stimmen auf unterschiedliche Wahllisten verteilen zu dürfen?“ Papier: „Das wäre ein weiterer qualitativer Schritt. Denn das bedeutet, dass man im Ergebnis Kandidaten unterschiedlicher Parteien wählen könnte. Dieses bedürfte einer vertieften Diskussion. Eine derartige Möglichkeit gibt es allerdings zum Teil schon im geltenden Kommunalwahlrecht.“

Wenige Tage später, am 19.5.2009, meldete sich Papiers Kollegin, die Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff ebenfalls zu Wort. In einem TAZ-Interview antwortete sie auf die Frage: „Plädieren Sie für die Einführung von Volksabstimmungen im Grundgesetz?“„Schon allein die Möglichkeit oder die Notwendigkeit, bestimmte besonders wichtige Fragen dem Volk zur Entscheidung vorzulegen, wird dann auch das Verhalten der gewählten Repräsentanten verändern. Nach sechzig Jahren stabiler Demokratie kann den Bürgern niemand mehr erklären, weshalb man sie da nicht ranlassen kann.“

TAZ: „Mehr direkte Sachentscheidungsmöglichkeiten für die Bürger? Damit würde eine Grundentscheidung der Verfassung revidiert.“ Lübbe-Wolff: „Bei der Schaffung des Grundgesetzes war der Parlamentarische Rat der Meinung, dass Volksabstimmungen zum Scheitern der Weimarer Republik beigetragen haben. Das stimmt aber nicht, wie man inzwischen auch in mehreren wissenschaftlichen Untersuchungen nachlesen kann.“

TAZ: „Sind die politischen Fragen heute nicht zu kompliziert, um darüber mit Ja oder Nein abzustimmen?“ Lübbe-Wolff: „Im Parlament wird auch nur mit Ja oder Nein abgestimmt.“ (…)

TAZ: „Die CDU/CSU lehnt Volksabstimmungen auch deshalb ab, weil es für die dann getroffenen Entscheidungen keinen Verantwortlichen gäbe. Was ist davon zu halten?“ Lübbe-Wolff: „Wo das Volk selbst entscheidet, trägt es selbst die Verantwortung für das Ergebnis seiner Entscheidungen. Es gibt keine bessere Anleitung zur Vernunft und keine effektivere Form der Verantwortung als die, dass man die Suppe, die man sich eingebrockt hat, selbst auslöffeln muss.“

Am 21.5.2009 legte Verfassungsrichter Papier in BILD nochmal nach: „Ich könnte mir aber Volksinitiativen auf Bundesebene vorstellen, bei denen eine Mindestzahl von Wählern ein Gesetz anstoßen kann, so dass das Parlament gezwungen wäre, sich mit dem Thema auseinander zu setzen.“

Immerhin also, anstoßen dürfen wir vielleicht demnächst Gesetzesvorschläge. Dass die Bürger davon wohl rege Gebrauch machen würden, lässt die bisherige Beteiligung an Online-Petitionen erahnen, wie etwa die zu den Themen „Bedingungsloses Grundeinkommen“ oder „Internetzensur“. Verfassungsrichterin Lübbe-Wolff äußert sich insgesamt weniger verhalten als Papier. Was also ist das Hindernis, das es bei mehr Mitbestimmung durch das Volk aus dem Weg zu räumen gilt?

„Bei der Schaffung des Grundgesetzes war der Parlamentarische Rat der Meinung, dass Volksabstimmungen zum Scheitern der Weimarer Republik beigetragen haben. Das stimmt aber nicht, wie man inzwischen auch in mehreren wissenschaftlichen Untersuchungen nachlesen kann“

Ein Blick in die Schweiz zeigt: Schon seit bald 180 Jahren gibt es für das Volk die Möglichkeit, mittels Volksrechten, im Initiativ- und Referendumsrecht, direkte Demokratie zu praktizieren. Auch in Deutschland gibt es die Möglichkeiten zur direkten Demokratie – allerdings bisher nur auf Kommunal- und Landesebene. Auf der besonders wichtigen Bundesebene heißt es bisher: Fehlanzeige!

Und eines ist den Bundesbürgern bisher offensichtlich noch gar nicht zu Bewusstsein gekommen: Nur noch ca. 20 % der Gesetze werden überhaupt in Deutschland gemacht. Der Rest der Gesetzesvorgaben kommt aus Brüssel und wird von der EU-Kommission vorgegeben – ohne jede Bürgerbeteiligung! Sind wir also einer Zuschauerdemokratie nahe oder, noch schlimmer, einer Art neuem Gottesgnadentum à la Brüssel?

 

Bestandsaufnahme

Von der ursprünglichen „Mitwirkung“ der Parteien an der politischen Willensbildung in Deutschland zum deutschen Parteienstaat
Die Idee der Volkssouveränität ist ein hohes, verteidigenswertes Gut. Es musste über Jahrhunderte gegen die Ansprüche auf alleinige Herrschaft und Gottesgnadentum gegen Kirche, Adel und Monarchien durchgesetzt werden. Wenn die Volkssouveränität einmal erlangt scheint, wie z. B. in den meisten europäischen Staaten durch die (repräsentative) Demokratie, heißt das nicht, dass dies auch weiterhin so sein muss. Interessen und Begehrlichkeiten, diese einzuschränken oder gar zu beenden, sind sehr real.

Es ist auch kein Geheimnis, dass nicht das deutsche Volk sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine demokratische Verfassung gab, sondern dass diese von den Alliierten Siegermächten in Auftrag gegeben und abgesegnet wurde. Den Deutschen wurde das Grundgesetz nie zur Abstimmung vorgelegt. Vielleicht traute man ihnen damals ja noch nicht zu, abstimmen zu können? Um die demokratische Legitimation der „Volksvertreter“ war es in Deutschland also von Anfang an nicht gut bestellt.

Das Grundgesetz sah in seinem Schlussartikel 146 seine eigene Ablösung für den Fall einer deutschen Wiedervereinigung vor. Das wäre nach 1989 die Chance gewesen, die Deutschen über eine neue, gemeinsame Verfassung, in freier Selbstbestimmung, abstimmen zu lassen. Doch erneut: Fehlanzeige! Die politische Klasse ließ die Deutschen wieder nicht an die Abstimmungsurnen. Um die Souveränität des deutschen Volkes zu verwirklichen und ihm das Recht zu geben, über seine Verfassung immer wieder neu zu befinden, müssten auf Bundesebene in der Tat endlich Volksbegehren und Volksentscheide eingeführt werden. Zunächst jedoch zur Problemlage: Wie ist es um die Volkssouveränität und die Legitimität der „Volksvertreter“ in Deutschland bestellt? Was ist Anspruch, was ist Wirklichkeit in unserer Demokratie?

Nur noch ca. 20 % der Gesetze werden überhaupt in Deutschland gemacht

Problemfeld fehlende Gewaltenteilung: Die Parteien sind überall
Wir alle lernen in der Schule, wie wichtig die Gewaltenteilung in einem modernen Staat, in einer parlamentarischen Demokratie wie der unseren sei. Ist sie nicht gegeben, befindet sich alle Macht in einer Hand, so herrschen Absolutismus und Despotie. Der französische Staatswissenschaftler und Kulturphilosoph Charles de Montesqieu (1689–1755) war der Begründer der modernen Staatskunde. Seine Lehre der Gewaltenteilung führte mit zur Französischen Revolution und zur Ablösung des Absolutismus. Nach Montesquieu ist die Staatsgewalt in ihre drei Hauptaufgaben zu unterteilen:

1.      Die Gesetzgebung (Legislative)
2.      Die vollziehende Gewalt (Exekutive) und 
3.      Die Rechtssprechung (Judikative)

Diese drei Aufgaben gehen an drei voneinander unabhängige Staatsorgane

1.      Das Parlament
2.      Die Regierung 
3.      Die Gerichte

Wir müssen uns also fragen, ob in unserem Staat diese drei Hauptaufgaben getrennt voneinander wahrgenommen werden und weiter, ob die Staatsorgane, die für die Durchführung dieser drei Aufgaben vorgesehen sind, tatsächlich unabhängig voneinander sind.

Charles de Montesquieu, Begründer der Idee der Gewaltenteilung

Selbst für einen ungeübten Beobachter der politischen Verhältnisse ist unschwer zu erkennen, dass die angebliche Trennung zwischen Parlament und Regierung und ihre gegenseitige Kontrolle nicht gegeben sind. Regierungsmitglieder (Regierungschef, Minister und parlamentarische Staatssekretäre) sitzen gleichzeitig im Parlament!

Wer die Mehrheit im Parlament hat, bestimmt die Regierung und kann die Opposition überstimmen. Die theoretisch geforderte Trennung und Kontrolle der Regierung durch das Parlament besteht also nur auf dem Papier. Parlamentsmehrheit und Regierung ziehen in Wahrheit am gleichen Strick.

Kontrolliert die dritte Kraft, die Rechtsprechung, die Parlamente und die Regierung? Nein, oder nur sehr eingeschränkt, denn die wichtigsten und höchsten Richter werden von der Politik nach ihrer Parteizugehörigkeit eingesetzt, z. B. die Verfassungsrichter; insofern besteht ein Abhängigkeitsverhältnis und damit die Gefahr, dass sie ihre Kontroll- und Schiedsrichterfunktion nicht in Unabhängigkeit wahrnehmen. Außerdem machen Regierungen ihre Vorschriften und Gesetze selbst, inklusive Änderungen der Verfassung, nach denen sich wiederum die Richter richten müssen …

Die 16 Bundesverfassungsrichter (in zwei Senaten à acht Mitglieder) werden zur Hälfte von der CDU/CSU ernannt, die andere Hälfte bestimmt die SPD. In Zeiten von Koalitionen „überlässt“ man dem kleineren Koalitionspartner einen Sitz. Das Grundgesetz schreibt eine Auswahl der Richter im Plenum des Bundestages vor; stattdessen wird ihre Auswahl unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem Ausschuss „ausgekungelt“:

Parlament, Regierung und Gerichte sind also faktisch alle in einer Hand – der der politischen Parteien, die entweder abwechselnd oder gleichzeitig (Große Koalition) an der Regierung sind. Sind wir auf dem Wege in den absoluten Parteienstaat?

Den Deutschen wurde das Grundgesetz nie zur Abstimmung vorgelegt

Um die geforderte Gewaltenteilung ist es offensichtlich schlecht bestellt. Auch alle anderen „Gewalten“, welche die Dominanz der Parteien im Staat ausbalancieren oder in Schranken halten könnten, sind von den Parteien beeinflusst, gesteuert, kontrolliert oder sogar gleichgeschaltet. Als da wären

  • die öffentlich-rechtlichen Medien, die nach „Parteienproporz“ personell „bestückt“ werden, d. h. die Parteien erwählen sich ihre Berichterstatter selbst.

  • die 17 Rechnungshöfe des Bundes und der Länder, deren Präsidenten und Vizepräsidenten jeweils einer der großen Parteien angehören. Die Rechnungshöfe sollen die gesamte Haushalts- und Wirtschaftsführung der Länder und des Bundes (Bundesrechnungshof) und auch die Ausgaben der Parteien überwachen, aber: Sie kontrollieren nur die Verwendung, nicht die (Selbst-)Bewilligung der Geldmittel, d. h. die Parteien wählen sich ihre Finanzkontrolleure selbst.

  • Sachverständigenkommissionen und wissenschaftliche Politikberatung. Diese werden unter der Hand auch nach Parteienproporz besetzt oder es werden den Parteien nahe stehende Wissenschaftler für Gutachten etc. berücksichtigt. So verhindern die Parteien, dass unabhängiger Sachverstand ausbalancierend und korrigierend in politische Entscheidungen eingreifen könnte: Die Parteien wählen sich ihre „unabhängigen“ Sachverständigen und Berater selbst.

Das Grundübel unserer Demokratie
liegt darin, dass sie keine ist.“

Hans Herbert v. Arnim in „Staat ohne Diener“

Jedem klardenkenden Menschen leuchtet ein, dass im Sinne einer Gewaltenteilung und Kontrolle der Regierung, diese nicht ihre Kontrolleure selbst wählen darf. Der Steuerzahler würde wesentlich besser fahren, wenn er z. B. die Präsidenten der Rechnungshöfe, wie einen Oberbürgermeister auch, direkt wählen könnte, um Rechtmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der öffentlichen Ausgaben unmittelbar einfordern zu können.

Problemfeld Wahlrecht: „Freie“ und „unmittelbare“ Kandidatenwahl = mit List über die Liste
Nicht das Volk wählt die Abgeordneten („frei“ und „unmittelbar“!) aus, wie die Verfassung gebietet, sondern in Wirklichkeit die Parteien: Die Bevölkerung hat in den Wahlkreisen keinerlei Einfluss auf die Auswahl der Kandidaten, die ihr zur Wahl vorgegeben wird. Mit der Zweitstimme kann der Bürger überdies nur eine Liste von Kandidaten wählen. Auf die Auswahl oder Reihenfolge der Listenkandidaten hat der Bürger keinen Einfluss. Auf diese Weise können Parteien sogar unbeliebte Kandidaten oder solche, die eigentlich abgewählt werden würden, ins Parlament bringen. Mit der Wahl einer Liste weiß der Wähler also nicht einmal, welchem Kandidaten er letztlich zum Einzug in den Bundestag verholfen hat! Ein derart gewählter „Repräsentant“ des Volkes ist in Wirklichkeit kein „Volksvertreter“. Wer einen guten Listenplatz und damit ein sicheres Mandat im Parlament bekommt, bestimmt ebenfalls die Partei und nicht das Volk! Die Parteien besitzen also ein Monopol für die Kandidatenaufstellung, das sog. Nominierungsmonopol.

Das Grundgesetz sah in seinem Schlussartikel 146 seine eigene Ablösung für den Fall einer deutschen Wiedervereinigung vor. Das wäre nach 1989 die Chance gewesen, die Deutschen über eine neue, gemeinsame Verfassung, in freier Selbstbestimmung, abstimmen zu lassen

 

Lösungsansätze

Dringend notwendig ist eine Wahlrechtsreform auf Bundesebene. Deren Anstoß ist von den Parteien nicht zu erwarten, da die jetzige Situation sie begünstigt. Daher die Forderung nach Volksbegehren und Volksentscheiden. In der Diskussion sind für eine solche Reform

  • Vorwahlen, bei denen nicht nur Parteien, sondern jeder Wahlberechtigte Kandidatenvorschläge abgeben kann. Die Parteien müssten in ihren Wahlkreisen verschiedene Kandidaten zur Auswahl aufstellen und könnten dem Wahlkreis „ihren“ Kandidaten nicht mehr diktieren.

  • das Panaschieren von Stimmen, d. h. die Möglichkeit (auch bei einer Bundestagswahl) seine Stimme für Kandidaten verschiedener Parteien abgeben zu können.

  • das Kumulieren: die Möglichkeit, einem Wahlkandidaten mehrere Stimmen geben zu können.

  • Letztere beiden Maßnahmen würden zur Möglichkeit des „intelligenten Wählens“ führen, das den Wählern die Gelegenheit gäbe, viel genauer auszudrücken, wen oder was sie eigentlich wünschen und unterstützen wollen.

  • die Einführung des Mehrheitswahlrechtes (bisher haben wir ein Verhältniswahlrecht). Die Parteien wären gezwungen, sich viel stärker an den Wählerwünschen zu orientieren und in den Wahlbezirken wirklich beliebte und am Gemeinwohl orientierte Kandidaten aufzustellen.

  • das Hoffen auf ein Urteil des Verfassungsgerichtes, welches das geltende Wahlrecht als grundgesetzwidrig erklären könnte, da keine „unmittelbare“ und „freie“ Wahlmöglichkeit bei den Listenwahlen gegeben ist.

  • Volksgesetzgebung auch auf Bundesebene durch Volkbegehren und Volksentscheid, wie sie auf Länderebene jetzt schon möglich ist.

Problemfeld 5-%-Hürde: „Wir müssen leider draußen bleiben!“ 
Ist man mit der Regierung und der Politik nicht zufrieden, gründet man „einfach“ eine neue Partei oder Wählergemeinschaft, nicht wahr? Aber: In Deutschland gibt es für neue Parteien und Wählergemeinschaften schier unüberwindliche Hürden. Die bekannteste ist die Sperrklausel der sog. 5-%- Hürde. Diese verstößt eigentlich gegen die im Grundgesetz festgelegte Wahlgleichheit. Diese Klausel ist in vielen anderen Ländern gänzlich unbekannt; gleichwohl wird sie von Regierung und Parteien in Deutschland dem Wähler gegenüber als eine Art zwingende Notwendigkeit verkauft und wieder auf die Lehren der Geschichte hingewiesen, sprich auf die angeblichen Erfahrungen aus der Weimarer Republik, die wir später noch näher besehen werden.

Die Väter des Grundgesetzes hatten sich nicht für eine Sperrklausel ausgesprochen. Taufpate der 5-%-Klausel ist denn auch – kann das Wunder nehmen? – die FDP! Aus reinem Machtkalkül heraus wollte sie ihrer Position als alleiniger Koalitionspartner der CDU/CSU festigen und andere, konkurrierende Parteien fernhalten; der Zugang zum Bundestag sollte für neue, kleinere Parteien so schwer wie möglich gemacht werden. Daher wurde schon bei der Wahl zum zweiten Deutschen Bundestag (1953) das Wahlgesetz dahingehend verschärft, dass die 5-%-Klausel nicht mehr nur für ein Bundesland, sondern fortan für alle galt. 1956 wurde noch einmal nachgelegt, indem, erneut auf Betreiben der FDP, die sog. „Alternativklausel“ verschärft wurde: Um in den Bundestag zu gelangen, musste eine Partie jetzt statt einem Direktmandat drei erlangen – oder 5 % der Zweitstimmen.

Nach der Wiedervereinigung wollten die Altparteien jetzt die 5-%-Hürde für das nun wesentlich größere Bundesgebiet geltend machen. Dies wurde dann vom Bundesverfassungsgericht wenigstens für die erste Bundestagswahl im wiedervereinigten Deutschland 1990 für verfassungswidrig erklärt … Ansonsten heißt es nun für neue Parteien, in 16 (!) Bundesländern gleichzeitig präsent sein zu müssen. Und das, ohne an die staatlichen Töpfe der Parteienfinanzierung heran zu können, die erst für den Fall einer Wahl in den Bundestag zugänglich sind.

Auf Bundesländerebene dagegen gab es die Sperrklausel entweder nie, oder sie wurde inzwischen abgeschafft. Nur die Bundesländer Thüringen, Saarland und Rheinland-Pfalz hinken dabei noch hinterher.

Die theoretisch geforderte Trennung und Kontrolle der Regierung durch das Parlament besteht also nur auf dem PapierNur noch ca. 20 % der Gesetze werden überhaupt in Deutschland gemacht

Problemfeld Ämterpatronage: Oktopussi – oder eine Krake namens Parteien
Da der Volkwille sich immer weniger Gehör verschaffen kann und die Macht der Parteien durch keine Gegengewalt ausbalanciert ist, wird ihr Arm lang und länger und sie nehmen Einfluss auch da, wo sie gar nichts zu suchen haben: Sie beeinflussen die Personalauswahl in Verwaltungen, im öffentlichen Dienst (Beamte und Angestellte) und verschaffen sich so loyale und zu Dank verpflichtete Amtsträger. Vielerorten bestimmen also nicht mehr Sachkenntnis, Treue im Amt, Pflichtbewusstsein und Gemeinwohlorientiertheit die Auswahl (z. B. von Verwaltungsbeamten), sondern Parteibuchwirtschaft. Es erhebt sich angesichts der Probleme, die einer konkreten Lösung harren (wie etwa die überbordende Bürokratie) die Frage, wie lange und bis zu welchem Punkt ein Staat bzw. eine Gesellschaft sich so etwas leisten kann. Streng genommen handelt es sich sogar bei der Besetzung des Bundesverfassungsgerichts, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit von den Parteien unter sich ausgehandelt wird, um Ämterpatronage.

Problemfeld Wahlbeteiligung: Stell dir vor, es sind Wahlen und keiner geht hin
Seit Jahren sinkt die Wahlbeteiligung auf allen Ebenen. Eine Umkehr des Trends ist nicht abzusehen. Viele Bürger haben offensichtlich aufgegeben und beteiligen sich nicht mehr an dem Gesellschaftsspiel namens „demokratische Wahlen“. Hat eine sinkende Wahlbeteiligung irgendwelche Konsequenzen für die Regierenden? Antwort: Nein!

  • Die Größe des Parlamentes (598 Sitze + 14 Überhangmandate) ändert sich nicht, es sitzen also immer noch genauso viele Abgeordnete im Bundestag, obwohl immer weniger Bürger zur Wahl gehen. In der viel gescholtenen Weimarer Republik dagegen variierte die Größe des Reichtags je nach Wahlbeteiligung. An diese Tradition sollte man erinnern und sich den Bundestag ruhig „gesundschrumpfen“ lassen, solange, bis die erfolgreiche Arbeit der Volksvertreter die Wähler wieder zur eifrigen Urnengängern macht.

  • Bei Volkabstimmungen in Ländern und Gemeinden ist eine Mindestwahlbeteiligung der Wahlberechtigten Voraussetzung, sog. „Quoren“. Analog könnten auf Bundesebene Quoren eingeführt werden, die auch dort eine Mindestwahlbeteiligung zur Voraussetzung einer gültigen Wahl machten. Dies würde die regierenden Parteien voraussichtlich immens anspornen, den Volkswillen wieder zu „erforschen“.

  • Die Parteien werden völlig unabhängig von der Wahlbeteiligung vom Staat finanziert, der Betrag wurde bei 133 Millionen Euro gedeckelt. Hier muss eingehakt werden und die Staatsfinanzierung muss bei abnehmender Wahlbeteiligung analog dazu zurückgehen.

Über die Einschränkung von Geldtöpfen lassen sich Veränderungen erfahrungsgemäß viel schneller in Bewegung setzen. Die Hoffnung ruht hier auf Volksbegehren und Volksentscheid. Denn die politische Klasse ist nicht bereit, die Rute freiwillig bereitzuhalten, die da heißt: Spürbare Konsequenzen ziehen aus sinkender Wahlbeteiligung!

Die wichtigsten und höchsten Richter werden von der Politik nach ihrer Parteizugehörigkeit eingesetzt

Problemfeld Parteienfinanzierung: Wer am Kreuz sitzt, segnet sich -- aus vielen Töpfen wird geschmaust
1959 hatte das System der staatlichen Parteienfinanzierung in Deutschland (beinahe) Weltpremiere. Der Bundestag beschloss die direkte staatliche Subventionierung der politischen Parteien. Das gab es bis dato nur in Costa Rica und Argentinien. Solch eine Finanzierung durch den Steuerzahler ist z. B. in der Schweiz oder in Großbritannien unbekannt. Passend zu der stetig steigenden Finanzierung durch Steuergelder, die sich die Parteien selbst zubilligten, definierten sie auch ihre politische Aufgabe immer großzügiger. Aus der ursprünglichen „Mitwirkung“ an der politischen Willensbildung wurde im Parteiengesetz von 1967 eine weiträumig kaum abgesteckte Aufgabe der „Gestaltung der öffentlichen Meinung“, wodurch sie sich berechtigt fühlen, die öffentlich-rechtlichen Medien und die Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung zu dominieren und Partei-„Stiftungen“ zu unterhalten.

Die politischen Parteien lassen sich mittlerweile in Deutschland gleich auf mehrfache Weise vom Steuerzahler finanzieren. Diese (Un-)Sitte ist dermaßen eingerissen, dass sie gar nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt wird. Dabei verstößt die Politik ständig gegen den Grundsatz, nicht in eigene Sache entscheiden zu dürfen (Befangenheit!), was in unserer Rechtsordnung ansonsten Tabu ist.

1.      Geldtopf „direkte Parteienfinanzierung durch den Steuerzahler“

  • Die Parteien herhalten 0,70 € pro Stimme bei Bundestags-, Landtags- und Europawahlen. Für die ersten vier Millionen Wählerstimmen kassieren sie sogar 0,85 € pro Stimme.

  • Auf Mitgliedsbeiträge und eingeworbene Spenden natürlicher Personen muss der Steuerzahler noch einmal 38 % der sich jeweils ergebenden Gesamtsumme dazulegen. (Dies lädt natürlich zur „Erfindung“ von Spenden ein, nur um an die staatlichen Gelder zu kommen …).

Der Steuerzahler „entschädigt“ die Parteien für ihren Aufwand auf allen Ebenen (Bund, Länder, Gemeinden) umfassend. Der Gesamtbetrag ist (momentan) bei 133 Millionen Euro pro Jahr gedeckelt worden. Die Vergabe dieser Staatsmittel ist kompliziert und undurchsichtig und richtet sich nach der Zahl der Wählerstimmen und nach der Höhe der Mitgliedsbeiträge und Spenden, die eine Partei einnimmt.

Die Geldbeträge werden von den Schatzmeistern der Parteien deswegen so hoch angesetzt, damit der Topf von 133 Millionen auch bis auf den letzten Cent ausgeschöpft werden kann. Daher bereitet den Parteien eine sinkende Wahlbeteiligung oder Mitgliederschwund auch wenig Kopfzerbrechen: Es reicht allemal, um an den großen Geldtopf heranzukommen!

Wie sieht es aber bei Erstattung der Unkosten für die Volksgesetzgebung aus? – Es gibt schließlich analog zu den Wahlkampfkosten „Abstimmungskampfkosten“. Und die Initiatoren von Volksbegehren sind nicht millionenschwere Parteien, sondern einfache Bürger oder Bürgervereinigungen. Herrscht also Chancengleichheit?

Nur sechs aus 16 (!) Bundesländern (Hamburg, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen) kennen Kostenerstattungsregelungen. In den restlichen Bundesländern muss der Bürger Informationskosten für das Anliegen des Volksbegehrens (Druckkosten, Plakatkleben, Versammlungen etc.) aus seinem privaten Geldbeutel zahlen.

Gegen das Finanzgebaren der Parteien kann der Bürger jedoch beim Verfassungsgericht keine Klage erheben

Bei der erfolgreich direktdemokratisch bewirkten Wahlrechtsreform in Hamburg 2004 zur Abschaffung des Parteienmonopols bei der Kandidatenaufstellung, initiiert von der Bürgervereinigung „Mehr Demokratie“, zahlte die Hansestadt gerade mal 0,10 € pro Stimme. „Mehr Demokratie“ erhielt gemäß den Ja-Stimmen 25.697 € erstattet. Diese standen Unkosten in Höhe von ca. 100.000 € gegenüber, die nur mit knapp 30.000 € eingehender Spenden abgedeckt waren. Unterm Strich blieb man also auf 44.303 € Schulden sitzen.

Die Botschaft der Politik an den demokratisch interessierten und engagierten Bürger lautete: Operation (Volksentscheid) geglückt – Patient (Bürger) tot bzw. verschuldet. Doch damit nicht genug: Der Hamburger Senat ließ es sich nicht nehmen, das Volksgesetz 2006 wieder rückgängig zu machen, bevor es noch (2008) zu ersten Anwendung kommen sollte. Soweit zum Respekt unserer Politiker vor direktdemokratischen Verfahren und Gesetzen.

2.      Geldtopf „indirekte staatliche Finanzierung der Parteien“

Aus diesem Geldtopf bedienen sich die Parteien über die steuerliche Absetzbarkeit von Spenden und Mitgliedsbeiträgen. Der Staat verzichtet auf die Erhebung von Steuern bei Einzelpersonen bis 3300 € jährlich bzw. bei steuerlich gemeinsam veranlagten Ehepartner bis 6600 €. Eine derart hohe Steuervergünstigung kann von einem Durchschnittsverdiener normalerweise nicht ausgeschöpft werden. Daher ist die Höhe der Steuervergünstigung verfassungswidrig. Die Gesamtsumme der indirekten Parteienfinanzierung wird bei 100 Millionen € jährlich angesetzt.

Gegen das Finanzgebaren der Parteien kann der Bürger jedoch beim Verfassungsgericht keine Klage erheben: Klageberechtigt sind nur Bundes- oder Landesregierungen, die Parteien selbst oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestages. Auf diesem Wege eine Veränderung zu erhoffen, wäre sicherlich ziemlich frustrierend. Ein Anstoß ist erneut nur von außen kommend denkbar.

Nicht das Volk wählt die Abgeordneten („frei“ und „unmittelbar“!) aus, wie die Verfassung gebietet, sondern in Wirklichkeit die Parteien

3.      Geldtopf „Abgeordnetendiäten/Parteisteuern“

Der Steuerzahler wird gezwungen, seine Volksvertreter fürstlichst für ihre Dienste zu entlohnen. Das geht über eine ursprünglich gewollte „Aufwandsentschädigung“ weit hinaus. Zu den Abgeordnetendiäten von 7668 € monatlich (zu versteuern) kommt noch eine steuerfreie Kostenpauschale von 3782 €, die für „Unkosten“ ausbezahlt wird, die nicht einmal nachgewiesen werden müssen. Zudem erwirbt ein Abgeordneter enorm schnell eine Altersversorgung. Schon nach einem Jahr hat er 192 € monatliche Altersversorgung erworben! In der Normalbevölkerung erwirbt ein Durchschnittsbeitragszahler aber nur 26 € monatliche Rentenansprüche pro Jahr …(Und das, obwohl Parlamentarier zu werden keinerlei Qualifikation voraussetzt. Nicht einmal einen Schulabschluss, geschweige denn eine Berufsausbildung muss man als Abgeordneter haben!)

Bei der Festsetzung der Höhe der Diäten berechnen die Parteien mit ein, dass jeder Abgeordnete oder Amtsträger eine „Parteisteuer“ zu entrichten hat – sozusagen als Gegenleitung für die Verschaffung eines Postens oder eines Mandates. Diese Betrag lag schon 2005 bei 52 Millionen € und stellt eine weitere indirekte staatliche Parteienfinanzierung dar.

Auf jeden Euro zwangsweise Parteisteuer, den eine Partei kassiert, erhält sie vom Staat noch einmal 0,38 € obendrauf. Diese „Sitte“ ist verfassungswidrig, denn sie macht deutlich, wie schlecht es um die „Unabhängigkeit“ der Abgeordneten bestellt ist.

4.      Geldtopf „Finanzierung der Fraktionen im Bundestag/Finanzierung von Abgeordneten-Mitarbeitern durch Steuergelder“

Die Fraktionen der Parteien erhalten für ihre Arbeit vom Steuerzahler auf Bund- und Länderebene rund 200 Millionen € pro Jahr. Dies kommt natürlich wieder der Parteiarbeit insgesamt zugute.

Für die Mitarbeiter von Bundestagsabgeordneten muss der Steuerzahler noch einmal über 200 Millionen € ausgeben; die Mitarbeiter können wieder für vielfältige Parteiarbeiten eingesetzt werden.

5.      Geldtopf „Parteistiftungen“

Die Parteistiftungen sind überhaupt keine „Stiftungen“ im eigentlichen Wortsinn, an deren Anfang eine große, gemeinnützige Stiftung einer Privatperson gestanden hätte (Ausnahme: Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD, die tatsächlich durch Spenden nach dem Tod des Reichspräsidenten Friedrich Ebert entstand), sondern eingetragene Vereine und Hilfsorganisationen der Parteien. Sie erhalten vom Steuerzahler über 300 Millionen € im Jahr (2007: 335,7 Millionen €) für ihre Arbeit zugunsten der Parteien.

1959 hatte das Bundesverfassungsgericht die Subventionen der Parteien, welche sich diese selbst zubilligten, für verfassungswidrig erklärt. Das war die Stunde der Parteistiftungen, in die fortan der Geldfluss umgeleitet wurde. Für diesen staatlichen Geldsegen gibt es keinerlei Obergrenze, da es kein Parteistiftungsgesetz gibt. Neue Parteien, die es nicht in den Bundestag schaffen, können an diesen „Stiftungsgelderzahlungen“ nicht teilhaben.

6.      Geldtopf „EU-Gelder“

Die Parteien erhalten seit 2004 auch aus dem EU-Haushalt Subventionen. Momentaner Richtwert: 100 Millionen Euro pro Jahr! Man kann jedoch davon ausgehen, dass auch diese Summe ständig nach oben gehen wird, sollte es dem Volk nicht gelingen, hier nachhaltig auf die Geldbremse zu treten. Zudem wurden 2007 nach deutschem Vorbild Parteistiftungen auf europäischer Ebene eingeführt. Das Finanzschlaraffenland ist somit auch auf EU-Ebene nahe. Wenn noch ein Fünkchen Schamgefühl in der Politik zu Hause wäre, müsste die nationale Parteien- bzw. Stiftungsfinanzierung um den Betrag der EU-Subvention gekürzt und der Steuerzahler entlastet werden. Das ist jedoch nicht vorgesehen.

Dringend notwendig ist eine Wahlrechtsreform auf Bundesebene. Deren Anstoß ist von den Parteien nicht zu erwarten, da die jetzige Situation sie begünstigt

Eine Beendigung dieser selbstverständlichen Selbstbedienungsmentalität bei der Bezahlung der Abgeordneten und der Parteien ist nur denkbar, wenn das Volk direktdemokratisch darüber zu entscheiden hätte. Nur so könnte der Monopolherrschaft der Parteien das finanzielle Fundament entzogen werden. Das ist bereit in der Schweiz der Fall, wo die Parlamentarier z. B. viel niedrigere Diäten beziehen. Insgesamt geht es um Beschneidung, Stutzung und massive Deckelung des vielfältigen Aderlasses von Steuergeldern in die Parteikassen. Da Parteienrecht bisher allein Sache des Bundes ist, wird man nur über Volksbegehren und Volksentscheide in Zukunft hier irgendetwas zum Besseren bewirken können.

Bereits an dieser Stelle dürfte (noch) klarer geworden sein, warum die politische Klasse ein Mehr an direkter Demokratie scheut wie der Teufel das Weihwasser …

 

Kurze Bestandsaufnahme: Direkte Demokratie in Deutschland

Direkte Demokratie bedeutet nichts anderes, als die Möglichkeit für die Wahlberechtigten, bestimmte wichtige Fragen und Probleme selbst zu entscheiden und nicht über Repräsentanten entscheiden zu lassen. Dieses Anliegen wird immer dringlicher angesichts der Machtkonzentration in der Hand der Parteien, der mangelnden Kontrolle der Regierenden und fehlenden Gewaltenteilung in unserer Demokratie, die eigentlich Voraussetzung für ein funktionierendes Staatswesen ist. In allen 16 Bundesländern besteht heute die Möglichkeit, Gesetze selbst zu bestimmen und sogar die Verfassung zu ändern – unter bestimmten Voraussetzungen (Ähnliches gilt für Städte, Gemeinden und Landkreise; dort heißt es Bürgerbegehren und Bürgerentscheid). In der Regel ist dem Volksentscheid ein Volksbegehren vorgeschaltet, bei dem sich vorab ein bestimmter Prozentsatz der Wahlberechtigten in Unterschriftenlisten eintragen haben müssen. In Hessen und im Saarland liegt die Hürde bei 20 %, in den restlichen Bundesländern bei 10 %. Erst dann kommt es zum Volksentscheid, an dem sich wiederum ein bestimmter Mindestprozentsatz der Wahlberechtigten beteiligen muss, z. B. 50 % oder 35 %, dies nennt man Quorum; es variiert von Bundesland zu Bundesland. Das Quorum ist eine deutsche Erfindung. In Ländern mit langer direktdemokratischer Tradition (z. B. Schweiz, USA) ist es unbekannt.

Es ist offensichtlich, dass es für Initiatoren von Volksbegehren schwer ist, 10 oder gar 20 % der Bevölkerung zu mobilisieren und außerhalb von Wahlterminen zu einem Behördengang zur Eintragung in Unterschriftenlisten zu bewegen. Zwischen 1998 und 2005 scheiterten an dieser 10-%-Unterschriftenhürde nicht weniger als sieben Volksbegehren, obwohl sich Hunderttausende in Unterschriftenlisten eingetragen hatten. Z. B. entsprachen 1998 im Volksbegehren „Gentechnikfrei aus Bayern“ 436.345 Stimmen „nur“ 4,9 % der Stimmberechtigten. Im Volksbegehren „Aus Liebe zum Wald“ (Forstreform) entsprachen 855.027 Stimmen „nur“ 9,3 % der Stimmberechtigten, weswegen die Initiative ebenfalls scheiterte. So werden Bürger systematisch entmutigt.

Wenn die Unterschriftenhürde dennoch genommen wird und ein Volksentscheid anberaumt werden kann, findet dieser in der Regel wieder außerhalb von Wahlterminen statt (die Zusammenlegung mit Wahlterminen ist z. B. in den US-Bundesstaaten gesetzlich vorgeschrieben); wirksam wird jetzt das erwähnte 50- oder 35-prozentige Quorum, also die Forderung, dass ein entsprechender Prozentsatz aller Stimmberechtigten eines Bundeslandes mit „Ja“ stimmen müssen. An dieser zweiten Hürde scheiterten bereits eine ganze Reihe von Volksentscheiden trotz reger Bürgerbeteiligung, z. B. der Hamburger Volksentscheid von 2007 zur Absenkung des besagten unfairen Quorums von 50 auf 35 % (801.879 Ja-Stimmen = 39,1 % der Stimmberechtigten) oder der Berliner Volksentscheid zur Erhaltung des Flughafens Tempelhof 2008 (881.035 Ja-Stimmen).

Die Botschaft der Politikerkaste an den Wähler ist, sich besser aus der Politik herauszuhalten. Gleichzeitig weint man Krokodilstränen über die zunehmende Politikverdrossenheit und Abstinenz der Bürger. Auch hier handelt es sich um einen krassen Verstoß gegen die Chancengleichheit: „Normale“ Wahlen bzw. repräsentative Gesetzgebungsverfahren brauchen keine Quoren. Sie würden fast regelmäßig scheitern, wenn sich obligatorisch 50 % der Wahlberechtigten an Wahlen beteiligen müssten. Z. B. wäre die stattgehabte Europawahl an mangelnder Wahlbeteiligung (43,3 %) gescheitert und damit ungültig. Volksgesetzgebungsverfahren werden dagegen ungeniert Stolpersteine und Hürden in den Weg gelegt.

Die 5-%-Klausel verstößt gegen die im Grundgesetz festgelegte Wahlgleichheit

Die 1990er Jahre standen in Deutschland im Zeichen der Reform der Kommunalverfassungen. Seitdem können Bürger ihre Bürgermeister und Landräte direkt wählen. Eingeläutet hat diese legale Revolution 1991 in Hessen Walter Wallmann, der damalig Frankfurter Oberbürgermeister. In einem Referendum parallel zur Landtagswahl stimmten überwältigende 82 % der Wähler für die Direktwahl. Dies zeigte der Politik, dass es sich um ein echtes Anliegen der Bevölkerung handelte. Eigentlich waren die Parteien SPD, Grüne und CDU negativ bis skeptisch eingestellt; die Höhe des Abstimmungsergebnisses setzte sie jedoch unter Zugzwang und die hessische Volksabstimmung löste eine Reform der Gemeindeverfassungen auch in anderen Ländern aus. Ursprünglich waren die Parteien dagegen gewesen; sie machten sich in der Opposition jedoch das Thema zu eigen und schon die Ankündigung der Vorbereitung eines Volksbegehrens löste den Reformprozess z. B. in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen 1993 aus. In Bayern stand eine Initiative der Bürgervereinigung „Mehr Demokratie“ am Anfang der Verfassungsänderung. Sie setzte 1995 gegen den vehementen Widerstand der regierenden CSU ein Volksbegehren und einen anschließenden Volksentscheid durch.

Im Prinzip liegt also auf Kommunalebene das Handwerkszeug für die Durchsetzung von mehr Demokratie vor und analog dazu ist wünschenswert, dass nicht nur ein Stadtoberhaut, sondern auch ein Landesoberhaupt (Ministerpräsident) und ein Staatsoberhaupt (Bundespräsident) direktdemokratisch gewählt werden. Durch Volksbegehren und Volksentscheid ist es schon jetzt möglich, die Landesverfassungen dahingehend zu ändern. Wenn dies erst einmal auf Länderebene gelungen ist, könnten die Bürger den Schwung aus der neu gewonnenen direkten Legitimation ausnutzen, um im Anschluss daran zu versuchen, die ungleich schwierigere Bundesebene zu „knacken“.

In der viel gescholtenen Weimarer Republik variierte die Größe des Reichtages je nach Wahlbeteiligung

 

Festung Bundesebene: Wie kann die direkte Demokratie eindringen?

Üblicherweise hält die politische Klasse dem Ansinnen, Volksbegehren und Volksentscheide auch auf Bundesebene möglich zu machen, drei Standardargumente entgegen:

1. Misstrauen gegen das eigene Volk, „Unberechenbarkeit“ des Souveräns. Dies spiegelt sich sehr gut in der eingangs zitierten Bewertung von Volksabstimmungen durch den CDU-Abgeordneten Ingo Wellenreuther wider, diese seien ein „primitives Verfahren“ und würden die Gefahr des „Missbrauchs“ und der „Destabilisierung“ bergen.

2. Die Behauptung, direktdemokratische Abstimmungsverfahren seien unvereinbar mit den Strukturen der repräsentativen Demokratie – sehr schön zusammengefasst in der bereits zitierten vehementen Ablehnung Angela Merkels, „die gesamte Statik des deutschen Staatsaufbau [werde] massiv verändert“.

3. Die Behauptung der angeblich schlechten Erfahrungen mit Volksabstimmungen in der Weimarer Republik.

Mögliche Antworten auf Standardargumente der Gegner direktdemokratischer Verfahren können sein:

  • Standardargument 1 und 2 kann vor allem mit dem Hinweis auf bereits existierende und funktionierende direktdemokratische Verfahren in der Schweiz und den USA begegnet werden. Die Erfahrung der Schweiz beweist nicht Destabilisierung, sondern im Gegenteil ein besonderes Maß an Stabilität und Zufriedenheit der Bürger.

  • Missbrauch (Gegenargument 1) liegt viel eher bei der politischen Klasse, nicht beim Volk (griech. „Demos“). Direkte demokratische Verfahren sind das einzige echte Mittel gegen Machtmissbrauch der politischen Kaste.

  • Es kann per se kein „primitives“ Verfahren sein, wenn Volkssouveränität in einer Demokratie direkt umgesetzt wird (Außer man ist der Meinung, der Demos an sich wäre „primitiv“…). Die Möglichkeit für das Volk, über seine Verfassung endlich abstimmen und diese ggfs. ändern zu können, ist in Deutschland mehr als überfällig.

  • Direktdemokratische Verfahren bergen weniger Missbrauchsmöglichkeiten, da die Bürger sich viel mehr am Gemein- bzw. Volkswohl orientieren können als Berufspolitiker. Im Gegensatz zu diesen hängen ihre wirtschaftliche Existenzen oder gesellschaftliche Positionen nicht von Wahlentscheidungen ab; auch unterliegen sie keinem Fraktionszwang oder den Bedürfnissen von Großspendern. Dies ist ein stabilisierendes Element und keine „Destabilisierung“:

  • Die von Gegnern beschworene Veränderung (Gegenargument 2) würde durch direktdemokratische Verfahren in der Tat herbeigeführt werden – das ist ja gerade der Zweck der „Übung“. Es kann der politischen Klasse, die sich gerade so urgemütlich ohne das Volk eingerichtet hatte, natürlich nicht Recht sein, dass der Souverän sich plötzlich zurückmeldet …

Die politischen Parteien lassen sich mittlerweile in Deutschland gleich auf mehrfache Weise vom Steuerzahler finanzieren

Setzen wir uns mit dem Gegenargument 3 auseinander. Zu diesen Fragen hat Politikwissenschaftler Otmar Jung (Privatdozent an der FU Berlin) wichtige Forschungsarbeit geleistet.

Die angeblich schlechten Weimarer Erfahrungen mit Volksabstimmungen
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Sturz des Kaisers wurde im Deutschen Reich auch die direkte Demokratie eingeführt. Es fanden insgesamt drei Volksentscheide und zwei Volksbegehren statt. Sind diese tatsächlich für das Scheitern der Weimarer Republik und für Hitler verantwortlich? Laut Otmar Jung „ist an diesen ‚Weimarer Erfahrungen’ so gut wie alles falsch.“

Der erste Volksentscheid fand 1926 zum Thema „Fürstenenteignung“ statt. 15,6 Millionen Bürger beteiligten sich. 14,5 Millionen stimmten mit „Ja“. Damit scheiterte der Volksentscheid am 50-%-Quorum, denn es gab damals 30 Millionen Abstimmungsberechtigte. Es fehlte also eine halbe Million Stimmen. Die Abstimmung war jedoch auch ein deutliches „Ja“ für die Republik und gegen die Monarchie. Diese Volksabstimmung ist also untauglich als Argument heutiger Skeptiker. Ebenfalls scheiterte 1929 der Volksentscheid gegen den Young-Plan an „mangelnder Beteiligung“ (59 Jahre lang Reparationszahlungen von jährlich zwei Milliarden Reichsmark; diese wurden bis 1980 von der Bundesrepublik gezahlt).

In seiner Abhandlung „Direkte Demokratie – Erfahrungen und Perspektiven“ verweist Jung auch auf Forschungen von Andreas Wirsching und resümiert, dass das „Weimarer Argument“ ein Scheinargument sei.

Die Nationalsozialisten bemächtigten sich ab 1933 des Themas „Volksabstimmung“ und führten solche 1933, 1934 und 1938 zu den Themen „Austritt aus dem Völkerbund“, „Zusammenlegung des Amtes des Reichskanzlers und Reichspräsidenten“ (Hitler) und über den „Anschluss“ Österreichs durch. Bei den beiden ersten Themen stimmten – trotz Diktatur – Millionen Bürger mit „Nein“.

Die Nationalsozialisten hielten 1933, 1936 und 1938 Wahlen ab. Allerdings gab es nur noch die „Liste des Führers“ zum Ankreuzen. Kein Mensch würde aber heute ernsthaft auf die Idee kommen, keine Wahlen mehr abhalten zu wollen, nur weil Wahlen unter Hitler entwertet wurden. Daher erscheint es nachgerade absurd, Volksbegehren und Volksentscheide auf Bundesebene nicht zuzulassen, nur weil unter der Hitlerdiktatur Volkabstimmungen stattfanden. Es ziehen also weder das „Weimarer Argument“ noch das Argument „Missbrauch während der Nazizeit“.

Eine Beendigung der selbstverständlichen Selbstbedienungsmentalität bei der Bezahlung der Abgeordneten und der Parteien ist nur denkbar, wenn das Volk direktdemokratisch darüber zu entscheiden hätte

Otmar Jung hat die Vorgeschichte der Gründung der Bundesrepublik Deutschland (1948) intensiv beforscht und kommt zu ganz anderen Schlüssen, was die Vorbehalte gegen plebiszitäre Elemente in der Verfassung angehen. Die ersten Länderverfassungen (1946/47) der Besatzungszonen enthielten direktdemokratische Elemente und wurden jeweils mit Volksabstimmungen verabschiedet. Es wurde selbstverständlich an die Weimarer Verfassung angeknüpft – das Weimarer-Argument wurde also erst später „aus dem Hut gezaubert“. Dass der Demokratische Rat letztlich alle Formen direkter Demokratie aus dem Grundgesetz strich, führt Jung auf ganz andere Umstände zurück: Seit 1946 hatte nämlich in der sowjetischen Besatzungszone die SED/KPD das Thema „Volkabstimmungen“ für sich entdeckt und mit Beschlag belegt. Dabei wurde nichts ausgelassen. Die Kommunisten versuchten sich aller nationalen und sozialrevolutionären Themen zu bemächtigen. So in dem erfolgreichen (77 %: Ja) Volksentscheid in Sachsen 1946 zur Enteignung von „Kriegs- und Naziverbrechern“. Es würde zu weit führen, hier die komplizierte Gemengelage der damaligen Nachkriegszeit analysieren zu wollen. Nur so viel: Die Motive waren vielschichtig (probate Schuldverschiebung) und auch nicht ganz lauter: Man wollte die Wirtschaftsordnung ohnehin revolutionieren. Es liegt auf der Hand, dass in den westlichen Besatzungszonen die Vorstellung einer Bodenreform per Plebiszit, gar noch gekrönt von der Brandmarkung Kriegs- oder Naziverbrecher zu sein, nicht gefallen konnte. Hinzu kam eine gesteigerte Aktivität der SED/KPD in Sachen Volksabstimmungen zum Thema „Deutsche Einheit“. Die politische Klasse der westlichen Besatzungszonen begann sich abzuschotten …

Otmar Jung: „Das Grundgesetz wurde … den Landesvölkern nicht zum Referendum vorgelegt, weil die Ministerpräsidenten und ihre Parteien befürchteten, mit diese Weststaatsgründung nicht bestehen zu können, wenn SED und KPD vor der Volksabstimmung die ‚nationale Karte’ spielen und die Deutsche Einheit propagieren würden. Die Ratifizierung durch die bereits gewählten Landtage, wo man die Kräfteverhältnisse überblicken, ja die Mehrheiten berechnen konnte, war vergleichsweise ‚sicher’. Legitimatorische Bedenken – waren die 1946/47 gewählten Landesparlamente überhaupt für die Weststaatsgründung legitimiert? – wurden demgegenüber verdrängt.“ (Hervorheb. durch d. Aut.).

Volksgesetzgebungsverfahren werden ungeniert Stolpersteine und Hürden in den Weg gelegt

Am 8.5.1949 beschloss der Parlamentarische Rat das Grundgesetz, die neue staatliche Ordnung der westdeutschen Besatzungszonen, aber damit auch die staatliche Teilung Deutschland. Am 7.10.1949 erfolgte die Gründung der DDR in der sowjetischen Besatzungszone.

Das Thema „Volksbefragungen“ blieb in der DDR auch in den nächsten Jahren virulent, und es folgte ein Feuerwerk an Vorschlägen:

Volksbefragungen gegen die Remilitarisierung Deutschlands und für einen Friedensvertrag (1951), gegen die Pariser Verträge (Beendigung des Besatzungsregimes, NATO-Beitritt der BRD, europäische Verteidigungsgemeinschaft) und über die friedliche Wiedervereinigung (1955).

Reichspräsident von Hindenburg: Er ernannte im Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler. Dürfen die Deutschen deshalb nie mehr ihren Bundespräsidenten direkt wählen?

Jedoch – die Mauer in den Köpfen wuchs und die Gleise wurden umgelegt in Richtung Westintegration der BRD und Kaltem Krieg. Man kann sich lebhaft vorstellen, dass die Politiker damals froh waren, dass die Westdeutschen z. B. nicht über die Wiederbewaffnung abstimmen durften. Die Welt von heute sähe aber sicher anders aus …

Der Vollständigkeit halber sei noch auf den Hinweis „Hindenburg“ eingegangen, der von den Etablierten gegen eine Direktwahl des Bundespräsidenten durch das Volk vorgebracht wird. Bekanntlich ernannte der greise und nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte stehende Reichspräsident Paul von Hindenburg am 30.1.1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler. Die unter den Folgen des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise leidende Weimarer Republik hatte Schwierigkeiten, eine stabile Regierungskoalition zustande zu bringen. Einflussreiche Finanz- und Industriekreise hatten in der sog. „Industrielleneingabe“ (Zu den 20 Verfassern gehörten u. a. Fritz Thyssen, Stahlindustrieller, und Friedrich Reinhart, Direktor der Commerzbank) schon am 19.11.1932 Hindenburg dazu gedrängt, im Sinne einer stabilen Regierungsbildung Adolf Hitler zum Kanzler zu ernennen. Diesem Drängen hatte Hindenburg sich zunächst verweigert und Kurt von Schleicher ernannt. Die NSDAP hatte bei der Reichstagswahl vom 6.11.1932 sogar Verluste hinnehmen müssen: Sie erlangte nur 33 % der Stimmen im Gegensatz zu 37 % am 31.7.1932. Dennoch erfolgte dann im Januar die Ernennung Hitlers („Machtergreifung“). Keineswegs soll behauptet werden, dass alle Industriellen hinter ihm gestanden hätten, noch dass dies der einzige Grund für seine Ernennung gewesen wäre. Das wäre unfair. Genauso unfair und absurd ist es jedoch, wenn sich die Deutschen im Jahr 2009 immer noch die Entscheidung des greisen Generals vorhalten lassen müssen und wegen seiner folgenschweren Fehlentscheidung bestraft werden, indem sie ihren Bundespräsidenten nicht selbst wählen dürfen!

Laut Otmar Jung „ist an diesen ‚Weimarer Erfahrungen’ so gut wie alles falsch“

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass beide Argumente gegen direkte Demokratie und Volksentscheide – die angeblichen „Weimarer Erfahrungen“ und „Hindenburg“ – Konstrukte und Scheinargumente sind, die nur bei Solchen ziehen können, die sich mit den tatsächlichen historischen Zusammenhängen nie auch nur ansatzweise auseinandergesetzt haben.

 

Was können wir tun? – Mögliche Maßnahmen und Schritte zu mehr direkter Demokratie

Der ungebrochene Trend zur direkten Demokratie entspricht dem Eindruck in großen Teilen der Bevölkerung, dass die repräsentative Demokratie in entscheidenden Fragen nicht mehr im Sinne des Gemein- bzw. Volkswohles handelt. Allein auf das Bundesverfassungsgericht zu hoffen, wäre naiv. Dieses könnte schon jetzt gegen die offensichtliche Verfassungswidrigkeit von Wahllisten wegen fehlender Freiheit und Unmittelbarkeit der Wahl und gegen die 5-%-Hürde wegen fehlender Chancengleichheit einschreiten. Warum tut es das wohl nicht?

Als Voraussetzung für die Rückkehr der Souveränität von der politischen Klasse zum Volk sieht Hans Herbert von Arnim, ehemaliger Professor an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer und erfolgreicher Buchautor, eine verstärkte politische Diskussion, einen intensivierten öffentlichen Diskurs und eine größere Politisierung der Bevölkerung, um den Common Sense zu befördern. Grundsätzlich sieht er

  • die Möglichkeit der Gründung einer neuen Partei, die sich die Strukturreform zum Hauptthema macht.

  • Die Möglichkeit der Direktwahl des Bundespräsidenten. Diesem könnte dann die Auswahl der Richter und Beamten (z. B. Rechnungshöfe) anvertraut werden, die sich gleichwohl einem öffentlichen Auswahlverfahren zu stellen hätten.

  • Die Möglichkeit der Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene an der politischen Klasse vorbei nach dem Vorbild der Direktwahl der Bürgermeister.

  • Wahl der Spitze der Rechnungshöfe durch das Volk

  • Abschaffung der politischen Weisungsgebundenheit der Staatsanwälte

  • Reform der öffentlich-rechtlichen Medienlandschaft

  • Verstärkte Kontrolle der Einflussnahme aus der Wirtschaft über Spenden, verstärkte Kontrolle von Lobbyismus, lukrativen nach-amtlichen Positionen von Politikern, Sponsoring.

Es gibt viel zu tun, lassen wir's sein?

Die Legitimitätsdefizite der repräsentativen Demokratie wurden quasi wie eine schwärende Krankheit auf die europäische Ebene verschleppt

 

Schlussbemerkung

Hätten sich die Völker in den letzten Jahrzehnten europaweit mehr für direkte Demokratie engagiert, stünden wir nicht dort, wo wir jetzt stehen: Vor der definitiven Entmündigung durch die EU. Die Legitimitätsdefizite der repräsentativen Demokratie wurden quasi wie eine schwärende Krankheit auf die europäische Ebene verschleppt.

Kommt das Angebot für mehr direkte Demokratie, das unlängst unser Bundespräsident machte, womöglich zu spät, wenn es denn überhaupt Wirklichkeit würde? Unsere demokratischen Vertreter fühlten sich bekanntlich vollauf befugt, unsere Souveränitätsrechte an die EU abzutreten. Unsere Parlamente sind folglich in Zukunft nur noch dazu da, Vorgaben der EU-Kommission umzusetzen. Vielleicht glaubt man daher jetzt, das Thema „direkte Demokratie“ gefahrlos diskutieren zu können? Möge es nicht so sein!

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ANMERKUNGEN:

  1. Quelle: DIE WELT, 25.5.2009
  2. Plebiszit: Sammelbezeichnung für alle Formen unmittelbarer, direktdemokratischer Beteiligung

LITERATUR:

LINKS:

Ferner: