„Heil dir im Siegerkranz“ – zur Gründung des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871

Von WILLY WIMMER

Wenn wir auf der Ebene des Staates nicht mehr verstehen wollen, warum und weshalb bestimmte Entwicklungen in unserer Geschichte abgelaufen sind, werden wir in das nächste Elend getrieben, mahnt Willy Wimmer anlässlich 150 Jahre deutsche Reichsgründung. Seine Analyse nimmt auch Bezug auf aktuelle Ereignisse und wird thematisch begleitet von einem Beitrag des Publizisten Prof. Alexander Sosnowski von „World Economy“.

Es sind in diesen Tagen die auf Straßen und Plätzen öffentlich zur Schau getragenen Fahnen des Deutschen Reiches, die eine zwiespältige Erinnerung an jene Zeit wachrufen. Selbst wenn die Motivation dahinter diffus bleibt, geschieht dies in einer Phase weltweiten Umbruchs und größter Herausforderungen für unseren Staat. Das war vor 150 Jahren nicht anders, als nach der Gründung des Deutschen Reiches im Schloss von Versailles „Schwarz – Weiß – Rot“ die Farben des Deutschen Reiches wurden.

Die jüngeren Ereignisse auf deutschen Straßen und der mediale Umgang damit machen indes deutlich, wie wenig man über jene prägende Zeit, nicht nur das Deutsche Reich betreffend, heute noch weiß oder wissen darf. Aus dem fragmentierenden Parteienbogen vernimmt man sogleich Rufe nach dem staatlichen Büttel, sobald Bürger von ihrem in der Verfassung verbrieften Recht Gebrauch machen, sich friedlich zu versammeln und ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen. Traditionsreiche politische Parteien, die sich mit dem Verzicht auf ihre Werte einer strategischen Erbsünde hingegeben haben, versuchen sich durch Gesinnungskontrolle Anderer und die tendenzielle Beseitigung verfassungsmäßig garantierter Grundrechte gegen ihre zunehmende Bedeutungslosigkeit zu stemmen.

Gelassenheit und Wissen um die eigene Nation, die europäischen Zusammenhänge und die weltpolitischen Herausforderungen würde Not tun

Derweil würden Gelassenheit und das Wissen um die eigene Nation, die europäischen Zusammenhänge sowie die weltpolitischen Herausforderungen Not tun – ein Diskurs und das Bemühen um „der Stadt Bestes“ wären angebracht. Man kann ohne Zögern behaupten, dass seit dem Umzug des Parlaments und der Regierung von Bonn nach Berlin Meinungstotalitarismus und Gesprächsverweigerung die deutsche Wirklichkeit bestimmen.

Dass die NATO in völliger Abkehr von der Charta der Vereinten Nationen nach der Rechtslage des 1. September 1939 außerhalb des Geltungsbereichs der ehemaligen Verteidigungsallianz unsere nahen und fernen Nachbarn mit Kriegen überziehen kann, ist nur möglich, weil die Willensbildung der Bürger nicht mehr stattfinden darf.

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In Gedenken an die Gründung des Deutschen Reichs 1871: das Niederwald-Denkmal oberhalb von Rüdesheim. Wer weiß heute noch über diese Zeit? (Bildquelle: Wikimedia Commons)

 

In einer Rede, die in ihrer Wirkung fortdauert, hat der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den Terminus der „Geschichtsvergessenheit“ eingebracht. Ein bedeutsamer Begriff, der im Grunde überall dort Anwendung finden sollte, wo es um denkwürdige Daten und Ereignisse in der deutschen Geschichte geht.

Der Publizist Alexander Sosnowski und ich haben in unserem Buch „Und immer wieder Versailles: ein Jahrhundert im Brennglas“ auf die gezielte Anlage des von unersättlicher Rache getriebenen Diktats von Versailles zugunsten des nächsten großen Krieges in Europa und der Welt aufmerksam gemacht. Monate später wies der russische Präsident Putin in die gleiche Richtung und erklärte, Deutschland sei 1919 in Versailles gedemütigt worden, mit schrecklichen Folgen. Kurz darauf hatte auch Präsident Macron die Verantwortung Frankreichs beim „Friedensdiktat“ von Versailles für den aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland hervorgehoben.

Dem offiziellen Deutschland hingegen war der 100. Jahrestag von „Versailles“ keine angemessene Einordnung resp. Betrachtung wert. Und zu von Weizsäckers „Geschichtsvergessenheit“: Was ist die Erinnerungskultur in einem Land wert, wenn nicht die Regierung als Vorbild vorangeht? Inzwischen sollte doch jedem klar sein: Ohne Versailles kein Hitler und ohne Hitler kein Krieg gegen Polen. Was hindert die deutsche Staatsspitze, sich der Geschichte zu stellen?

Dieses Schicksal wird vermutlich auch die Erinnerung an den 18. Januar 1871 und damit das Gründungsdatum des Deutschen Reiches treffen. Gleichwohl Deutschland die Zeit der Teilung nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8./9. Mai 1945 mit dem 3. Oktober 1990 überwunden hat, ist bis heute wirkmächtig, was zum 18. Januar 1871 führte. Ohne jenen Tag der Reichsgründung in Versailles kann man den 8./9. Mai 1945 und die Auswirkungen auf den Bestand Deutschlands, Europas und der Welt kaum denken. Bis heute feiert Frankreich seine Schlachten auch auf dem Gebiet des ehemaligen „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“, die sich an die Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges fast 150 Jahre zuvor anschlossen. Die Tafeln am Arc des Triomphe zeugen davon.

Mit der Reichsgründung im Schloss von Versailles im Januar 1871 wurde deutlich gemacht, wie sehr sich beide Staaten aus einer Erzfeindschaft heraus definierten. War es doch in den Napoleonischen Kriegen Frankreich, das die europäische Ordnung in der Form des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ zerschmetterte. Den Weg hatte dazu die „monarchische Allianz“ gegen das revolutionäre Frankreich geebnet. Diese Allianz wollte partout die innenpolitischen Umwälzungen in Frankreich, die zum Umsturz und Beseitigung der monarchischen Struktur führten, nicht hinnehmen. Wohl auch in der Furcht, wegen der auch in ihren Staaten feststellbaren Veränderungen dann selbst hinweggefegt zu werden, wenn man die Veränderungen in Frankreich nicht restaurieren sollte. Für Mitteleuropa bedeutete dies, den Ordnungsfaktor in der Form des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ auf französisches Betreiben hin eingebüßt zu haben.

Was hindert die deutsche Staatsspitze, sich der Geschichte zu stellen?

Damit einhergehende geostrategische Überlegungen bestimmen auch heute die Lage im globalen Maßstab in den Beziehungen zu anderen Staaten, vor allem Chinas. Selbst in der Frage nach einer wirksamen Bekämpfung der Corona-Pandemie wird deutlich, wie die Leistungsfähigkeit eines Systems eingeschätzt werden muss. Im Verbund mit den USA wird daraus die Auseinandersetzung über die Dimension der Kooperation, die auch von der Frage bestimmt wird, ob man einen Wettbewerb überhaupt mit Aussicht auf Erfolg bestehen kann.

Aus den Vereinigten Staaten werden aufgrund der weltpolitischen Verwerfungen unserer Zeit Stimmen laut, welche die ein ganzes Jahrhundert überspannende amerikanische Politik gegenüber unserem europäischen Kontinent mit den genannten Argumenten zu rechtfertigen suchen. Danach ist der eigenen Existenz wegen jede Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland zu hintertreiben, weil man den dann möglichen Potenzialen nicht mehr standhalten könne. Dies gelte ökonomisch, in der Gesellschaftspolitik und sicherheitspolitisch. Wenn sich die deutsche Staatsspitze und vor allem die Bundesregierung aus Anlass des Jahrestages am 18. Januar nicht mit den damit verbundenen Fragen auseinandersetzt, wird sie weniger der historisch bedingten Verpflichtung als vielmehr ihrer Verantwortung für einen angemessenen Beitrag der deutschen Politik für eine friedliche Welt nicht gerecht.

Der deutsche Offizier Jochen Scholz hat erst kürzlich im Hinblick auf den 18. Januar 1871 angemerkt, dass auch der damalige britische Premierminister Disraeli die Bildung des Deutschen Reiches als Ende der bisherigen europäischen Ordnung und Zeichen größter Umwälzungen angesehen hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt war für Frankreich und England das europäische Vorfeld gerade gut genug, die eigenen Interessen vorstellungsgemäß durchzusetzen. Das galt auch für die Soldaten aus deutschen Landen, die für die jeweiligen britischen und französischen Kriege eingesetzt werden konnten. So viel anders ist die heutige Lage innerhalb der NATO nun auch nicht. Bei einer nüchternen Betrachtung ist Deutschland neben Russland jener europäische Staat, der den Frieden in Europa für das höchste anzustrebende Gut hält. Nach der Gründung des Deutschen Reiches war dies der politische Ansatz für Reichskanzler von Bismarck, als er davon sprach, dass das Reich nunmehr „saturiert“ sei. Daran ändert sich auch nichts, wenn man aufgrund der Teilungen Polens andere Aspekte zwingend berücksichtigen muss. Die Berliner Konferenz und die Versuche Bismarcks, Friedens- und Ausgleichmöglichkeiten für andere Teile der Welt zu schaffen, mindern den Wert der Aussage des britischen Premiers nicht.

Das kaiserlich-deutsche Ansinnen, einen Beitrag zum Frieden zu leisten, war ein zu beseitigendes Hindernis für diejenigen, die bis dahin sicher davon ausgingen, ungehindert schalten und walten zu können. Die gesamten angelsächsischen Überlegungen waren auf die „Fixsterne“ Russland und Deutschland ausgerichtet – und daran hat sich auch heute nichts geändert. Für uns bedeutet das, sich einem Spagat mit tödlichem Risiko ausgesetzt zu sehen, kaum anders, als dies auch für das Deutsche Reich nach 1871 galt: Entweder wird das eigene, auch militärische Potenzial zwecks kriegerischer Optionen gegenüber fremden Staaten und Völkern im Interesse der jeweiligen Führungsmacht eines Bündnisses eingesetzt oder Deutschland sieht sich erheblichen Gefahren ausgesetzt. Anders als nach 1871 droht Deutschland heute im Falle eines Konfliktes, an dem es unter diesen Umständen beteiligt sein sollte, die Auslöschung als Volk und Staat. Sollte Deutschland unter diesen Umständen sein Potenzial zur Bewahrung des Friedens und damit gegen den Willen kriegsbefürwortender Mächte im eigenen Bündnis einsetzten, droht ihm der von außen herbeigeführte Umsturz. Solange die fremden Ziele für einen Krieg nicht die deutschen sind, ist das ein existenzbedrohender Umstand für unser Land. Der heutige Vergleich zwischen dem Deutschen Reich, der Bonner Republik und der deutschen Hauptstadt Berlin macht bis in das verwaltungsmäßige Staatshandeln hinein deutlich, dass wir politisch in Strukturen leben, die eine eigene deutsche Willensbildung in diesen zentralen Fragen wegen der Einbindung in spezielle Netzwerke nicht zulassen. Dazu zählt vor allem, Deutschland von einem demokratisch verfassten Rechtsstaat in einen Staat dominiert von nicht-legitimierten NGOs überführt zu sehen. Prototypisch ist in diesem Zusammenhang die „Politik der begrenzten Souveränität“ für NATO-Mitgliedsstaaten durch die USA beim Pipeline-Projekt „Nord Stream 2“.

Anders als nach 1871 droht Deutschland heute im Falle eines Konfliktes die Auslöschung als Volk und Staat

Premier Disraeli sah nicht nur Probleme für den von London aus stets erwünschten „Festlandsdegen“, natürlich im britischen Interesse. Großbritannien war zu jener Zeit, als man sich zwecks Ausrufung des deutschen Kaisers in Versailles traf, die führende Wirtschaftsmacht auf dem Globus. Mit Argwohn hatte man seit langem beobachtet, wie unter Führung Preußens die zoll- und wirtschaftspolitische Neuordnung des deutschen Raumes vonstatten ging. Eines Raumes wohlgemerkt, den die Zerschlagung des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ durch Frankreich fast drei Generationen vor der Reichsgründung 1871 hinterlassen hatte. Seit Adolph Kolping und Karl Marx war klar, dass für die neuen gesellschaftspolitischen Fragen Europas in Deutschland Konzepte entwickelt wurden, die geeignet waren, Antworten zu geben, durch ihren Modellcharakter aber auch erhebliche und unerwünschte Konsequenzen für die führenden Kräfte anderer Staaten aufwerfen würden.

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Die Affäre Alfred Dreyfus: gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine zentrale innenpolitische Krise Frankreichs mit Wirkung auf Deutschland (Bildquelle: Wikimedia Commons)

 

Beispielhaft kann das an dem bedauernswerten Fall des französischen Offiziers Dreyfus gesehen werden. Ihm, dem Franzosen jüdischen Glaubens, wurde unterstellt, für Berlin spioniert zu haben. Europa gärte in vielerlei Hinsicht, weil eine neue europäische Kraft „in der Stadt“ war. Damals war es das kaiserliche Deutschland, heute wäre China das Pendant. Es gibt genügend Möglichkeiten, entsetzliche Fehler zu machen. Wenn schon die Corona-Pandemie kein Anlass zum Umdenken ist, dann womöglich die Betrachtung der Konsequenzen aus der europäischen Politik von zwei Jahrhunderten.

Die schleichende Erosion unseres Rechtsstaates, bei der politisch gewollte Veränderungen außerhalb der dafür vorgesehenen Institutionen seitens der deutschen Bundeskanzlerin umgesetzt werden, ist nach juristischen Maßstäben einem putschartigen Verhalten „top down“ gleichzusetzen. Wenn man sich nicht mehr an die Deutschen als Nation wendet, sondern – entgegen dem Wortlaut der Verfassung in der Form des Grundgesetzes – von denen spricht, die „schon länger hier sind“ und denjenigen, „die neu hinzugekommen sind“, wird das Umsturzgebaren seitens der Staatsspitze evident. Der hochgeschätzte Staatsrechtler Professor Rupert Scholz, ehemals Bundesverteidigungsminister, spricht öffentlich von einem „fortdauernden Verfassungsbruch“ mit Blick auf die Migrationsentscheidung der Bundeskanzlerin in Folge des 4./5. September 2015.

In einer öffentlichen Gesprächsrunde einer Hamburger Wochenzeitung macht der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder klar, dass seine Zustimmung zum Angriff in Friedenszeiten auf die Bundesrepublik Jugoslawien ein Bruch des Völkerrechts gewesen sei. Ein Bruch des Völkerrechts ist auch ein Bruch des Grundgesetzes, das Deutschland aus den Gründen, über die in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen geurteilt worden war, die Beteiligung oder Führung eines Angriffskrieges eindeutig verbietet. Die Bundesregierung hat versagt, Konsequenzen aus dem 8./9. Mai 1945 zu ziehen und ein Gründungsmitglied der Vereinten Nationen unter Bruch der UN-Charta und der eigenen Verfassung mit einem Angriffskrieg überzogen. Die Bundesregierung hat die deutschen Grenzen bewusst schutzlos gestellt und das Betreten deutschen Staatsgebietes durch diejenigen zugelassen und gefördert, die keinerlei Berechtigung für dieses Vorgehen hatten.

Die Bundesregierung war zum Schaden der Nation erfolgreich darin, die für das demokratische Deutschland nötige Bindekraft in der Substanz zu gefährden

In zentralen Fragen des Staates hat sich die Bundesregierung also nicht dem verpflichtet gefühlt, was in unserer Nationalhymne mit „Recht“ als Verpflichtung angesprochen wird. In der Folge ist die von der Staatsspitze zur Durchsetzung ihrer nicht öffentlich dargestellten Ziele betriebene Spaltung des Landes und der staatlichen Gemeinschaft ebenso offenkundig wie der mithilfe der staatlichen Institutionen, der Medien und anderer betriebene rechtliche Umbau des Staates zur künftigen Legitimation eines rechtswidrigen Verhaltens derjenigen, die ohne Rechtsgrundlage ins Land gekommen sind. Mit der gepriesenen „Einigkeit“ in der Hymne ist es immer weniger her, weil die Staatsspitze dieser die Grundlage in existenziellen Fragen entzogen hat. In den Vereinigten Staaten kann man zeitgleich feststellen, wohin dergleiches Verhalten führen wird.

Während heute bei jedem Auftritt des amerikanischen Präsidenten „Hail to the Chief“ intoniert wird, stimmten die Deutschen seinerzeit „Heil dir im Siegerkranz“ an. Die vormals preußische Volkshymne wurde ab 1871 Kaiserhymne. „Heil dir im Siegerkranz“ war eben das patriotische Lied der Bürger. Die Melodie der Kaiserhymne war mit dem „God save the Queen“ der Briten identisch. Das Lied wurde in weiten Teilen Europas mit jeweils eigenem Text gesungen, selbst im Russischen Reich, was die große Verbundenheit mit der monarchischen Ordnung zum Ausdruck brachte.

Nach dem 18. November 1918 und dem Waffenstillstand im Ersten Weltkrieg kam die Kaiserhymne geradezu unter die Räder. Wird es der dritten Strophe des Liedes eines Herrn von Fallersleben ähnlich ergehen? „Schwarz – Rot – Gold“ haben uns Deutsche in Ost und West auf dem Weg aus dem Elend des Zweiten Weltkriegs begleitet und uns letztlich eine Art von Gewissheit und Verpflichtung für die Zukunft gegeben. Wenn jetzt auf den Straßen, organisiert von den „üblichen Verdächtigen im In- und Ausland“, die Farben aus dem 19. Jahrhundert gezeigt werden, macht dies eines deutlich: Die Bundesregierung war zum Schaden der Nation erfolgreich darin, die für das demokratische Deutschland nötige Bindekraft in der Substanz zu gefährden.

Die Bismarck‘sche Überlegung von der nach der Reichsgründung saturierten Nation knüpfte an die Zeit des 1806 durch napoleonische Entscheidungen beseitigten „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ an. Als dieses die Mitte Westeuropas und weiter Teile Südeuropas nicht mehr bestimmte, entfiel für Europa – wie bereits beschrieben – ein Ordnungsfaktor, dessen Aufgabe es für lange Zeit gewesen war, in den Beziehungen zueinander rechtlich stabile Verhältnisse zu schaffen sowie den Frieden zwischen den Reichsteilen und darüber hinaus zu sichern. Man war schon lange nicht mehr – und das mangels Fähigkeiten und Einsicht – auf Expansion eingestellt, in gewisser Weise im späteren Bismarck‘schen Sinne „saturiert“. Damit war man zwar nicht mehr von der Qualität, über Krieg und Frieden entscheiden zu können. Die Fähigkeiten waren allerdings ausreichend, Frieden zu bewahren. Eine Fähigkeit, die auch dem Deutschen Reich nach 1871 beigemessen werden musste und gerade deshalb der berühmte „Dorn im Auge“ derjenigen gewesen ist, die ohne Krieg nicht sein können.

Die „Heilige Allianz“ in der Nachfolge des „Heiligen Römischen Reiches“ war das erste Gestaltungselement eines friedensbezogenen europäischen Kontinentes

Dies bewusst aus den Augen verlieren zu wollen und sich nicht mit der Lage des Reiches nach der Reichsgründung zu beschäftigen, verheißt für die heutige „Europäische Union“ nichts Gutes. Ist dieser „Block“ gesättigt und versagt sich Expansion oder ist er nur das Instrument, das auf Expansion und damit auf Krieg ausgerichtet ist? Ausreichend dabei ist es, das Potenzial und nur den Zusammenhalt der EU im Sinne der Kriegführung führender Länder in diesem Staatenbund zu nutzen. Das Reich nach 1871 war nicht mehr das Gebiet, in dem man sich für fremde Kriege mit Soldaten bedienen konnte oder wie Preußen vor einen fremden Karren spannen sollte. Das Reich mit einem wachsenden ökonomischen, sozialen und demokratischen Potenzial hatte in gewisser Weise das Erbe des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ in der Mitte Westeuropas angetreten. Warum tritt die Europäische Union zur Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger nicht in dieses Erbe ein und warum geht die deutsche Staatsspitze an diesem Erbe vorbei bzw. lässt es „links“ liegen? Soll unter allen Umständen verhindert werden, dass wir heute mit der Kriegsausrichtung der EU und noch mehr der NATO nicht dem Frieden verpflichtet sind, sondern Kriege zu führen haben? Und das das Bekenntnis zur deutschen Geschichte genau aus diesem Grund notleidend ist? Und alles verhindert werden muss, an eine stolze Tradition der russischen Außenpolitik der „friedlichen Koexistenz“ anzuknüpfen und daraus die Zukunft unseres Kontinentes mit zu gestalten?

Die „Heilige Allianz“ in der Nachfolge des „Heiligen Römischen Reiches“ war das erste Gestaltungselement eines friedensbezogenen europäischen Kontinentes. Ein Erinnern an die Gründung des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871 würde das mehr als deutlich machen.

 

LITERATUR

  • Alexander Sosnowski/Willy Wimmer: Und immer wieder Versailles. Ein Jahrhundert im Brennglas. zeitgeist Print & Online, Höhr-Grenzhausen 2019
  • Thomas Gebhardt: Der Fluch von Sedan. Zur Problematik der deutsch-französischen Nachbarschaft. Denkmäler und Stationen – von Vercingetorix bis Macron. Mit einem Vorwort von Willy Wimmer. zeitgeist Print & Online, Höhr-Grenzhausen 2020/21