Für dieses Manifest haben sich zwei Europaabgeordnete unterschiedlicher Couleur zusammengetan. Daniel Cohn-Bendit braucht in Deutschland nicht vorgestellt zu werden, obwohl er – wenngleich Deutscher – Europaabgeordneter für die französischen Grünen ist, eine Konstruktion, die in Europa bereits möglich ist. Guy Verhofstadt war bis 2008 belgischer Premierminister und hat die unheilvolle innernationale, kulturell begründete Zerstrittenheit Belgiens in seinem emotionalen Gepäck.
„Europa wankt in seinen Grundfesten. Die Eurokrise wütet ungehindert. Aber diese Krise ist nur ein Symptom einer viel tieferen Krise, einer Krise, mit der die EU seit langem ringt. Eine ‚Poly-Krise‘, wie Edgar Morin es nennt: wirtschaftlich, demographisch, ökologisch, politisch und institutionell. … Wenn es darauf ankommt, bleibt die Europäische Union ein uneiniger Kontinent, in siebenundzwanzig Brocken aufgeteilt, während wir unsere Interessen gleichzeitig mit immer mehr Nachdruck gegenwirtschaftliche und politische Großmächte vom Kaliber Chinas, Indiens, Brasiliens, Russlands oder der Vereinigten Staaten verteidigen müssen.“ (Seite 9). Demgegenüber werde Europa ein marginalisierter, untergehender Kontinent, es sei denn, es würde die Ursache dieser Krise angehen: den Unwillen der Nationalstaaten, ein wirklich vereinigtes und föderales Europa zustande zu bringen. Mit „föderalem Europa“ ist ein Bundesstaat nach dem Muster der USA gemeint, nicht etwa eine Föderation selbständiger Nationen. Es werden viele europäische Gründungsväter lobend zitiert, auch Adenauer, nicht aber de Gaulle, der sich wohl zu klar für ein „Europa der Vaterländer“ ausgesprochen hat.
Wie recht die beiden Autoren doch haben, wenn es um die wirtschaftliche Einheit der EU im Hinblick auf die Spekulation gegen Griechenland und andere südeuropäische Länder geht! Ja, wir brauchen eine europäische Wirtschaftsregierung. Ebenso, wenn wir das politische Gewicht Europas in der Welt in Betracht ziehen und der unbestreitbare Sinn einer militärischen Vereinheitlichung, aus Kosten- und Effizienzgründen, auch wegen eines europäischen Identitätsgefühls.
Der große Fehler dieses Buches (der Form nach teils Manifest, teils Interview) liegt in dem, was der Titel verschweigt, was aber der durchaus ermüdende Kehrreim von der ersten bis zur letzten Seite ist: Für Europa – gegen die Nationen. Die Eindimensionalität der Gedankenführung lässt keine seriöse Argumentation über Sinn und Wert der Nationen bzw. Nationalstaaten zu. Mit „Nationen“ ist hier, leider nicht im Buch, der kulturelle Aspekt der Nationalstaaten angesprochen, der sich in Sprache, Geschichte und sonstigem kulturellem Identitätsbewusstsein niederschlägt. Wenn Cohn-Bendit und Verhofstadt diese großen emotionalen Kräfte, die sich bei den internationalen Sportereignissen nur oberflächlich manifestieren, ignorieren wollen, sitzen sie auf dem falschen Dampfer (ebenso wie Habermas mit seiner einseitig juristischen Auslegung des „Verfassungspatriotismus“, ein Wort, das nicht auf ihn, wie die Autoren meinen, sondern auf Dolf Sternberger zurückgeht). Zwar wurden im Namen der Nationen furchtbare Kriege geführt wie auch im Namen der Religionen – denn die Korruption des Besten ist die schlimmste (corruptio optimi pessima) – doch handelt es sich um den politischen Missbrauch der kulturellen und emotionalen Energien aufgrund mangelnder Differenzierung der Ebenen Kultur und Politik. Das Deutsche Reich von 1871 zeugte von dieser Dominanz der preußischen, kleindeutschen Politik über die jahrtausendealte kulturelle Einheit der Deutschen, eine folgenreiche Fehlkonstruktion.
Paradoxerweise wird dieser Missbrauch mit anderen Mitteln fortgesetzt durch die furios antinationale „Argumentation“ der Autoren: Die kulturellen Einheiten der Nationen existieren für sie nicht, bei Verhofstadt wegen der unbewältigten belgischen Kultur- und Sprachproblematik, bei Cohn-Bendit, weil er seine „Heimat Babylon“ (so sein Titel von 1992) bevorzugt. Auch in diesem Buch fehlte es schon an den entscheidenden Differenzierungen: Europa ist multikulturell ja, und das ist sein weltweit einzigartig leuchtender, zu bewahrender Reichtum. Der wird aber nicht gewahrt, wenn die Kulturnationen zu multikulturellen und damit akulturellen Gebilden nivelliert werden, in denen der Unterschied zwischen gastgebender und Gastkulturen aufgehoben wird! Die umfassenden kulturellen Einheiten namens Nationen können auch nicht durch „Regionen“ in einem undifferenziert wirtschaftlichen oder kulturellen Sinn ersetzt, wohl aber ergänzt werden (die allerdings in manchen europäischen Staaten mehr Autonomie erfordern). Der Föderalismus, hier gemeint als Regionalismus, hat gerade in Deutschland tiefreichende Wurzeln und verdient eine solche Stärkung, die nicht auf die glücklich überwundene Kleinstaaterei hinausläuft. Die sprachlich-kulturelle Gemeinsamkeit ist jedoch der entscheidende und alle Lokalpatriotismen weit überragende Rest von Gemeinschaftsleben, das gerade dem modernen Rechtsstaat innewohnen muss, soll dieser nicht eine fröstelnde, heimatlose Angelegenheit werden. Cohn-Bendit hat – wie die Mehrheit der Grünen – diesbezüglich nichts dazu gelernt, am wenigsten differenziert systemtheoretisches Denken: Wir brauchen sowohl Nationen wie auch ein Europa, in denen die Wertebenen oder Subsysteme Wirtschaft, Politik im engeren Sinne, Kultur und Grundwerte institutionell unterschieden werden.
Wenn wir also erstens eine wirtschaftlich institutionelle Einheit Europas brauchen, die übrigens der viel stärkeren Regionalisierung der Wirtschaft zu vernünftigen, kleinen Kreisläufen nicht entgegensteht, dann zweitens – mit davon differenzierten Institutionen – eine gesamteuropäische Verteidigungs-, Außen- und Rechtspolitik. Wir brauchen drittens eine davon grundsätzlich unterschiedene Kulturpolitik Europas, welche die Vielfalt der so reichen Nationalkulturen und deren regionale Ausprägungen wahrt, was sich mit den wirtschaftlichen und politischen Einheiten nicht deckt. Sowie unbeschadet und vom Kulturellen nochmals differenziert die Einheit der Grundwerte-Gemeinschaft, die allen pluralismusfähigen Weltanschauungen ein faires, fruchtbares Miteinander institutionell klar gewährleistet. Für diese viergliedrige Wertstufung und eine entsprechende Gliederung der Parlamente setzt sich der Rezensent seit Jahr und Tag ein. Sie stellt auch die grundsätzliche Lösung der europäischen Probleme dar, wonach die gegenwärtigen, visionslosen Politiker wie Blinde mit dem Krückstock stochern.
In ihrem vehementen Eintreten „für Europa“ kann ich den Autoren nicht widersprechen, wohl aber darin, den Sündenbock in den kulturellen Einheiten namens Nationen (in einem freilich hier und da abzuklärenden Verständnis) zu sehen. Denkende Differenzierung tut not und führt weiter, nicht emotionale Polemik. Diese unterdrückt, durchaus gewalttätig, die denkende Weiterentwicklung des künftigen Europa. Ich erlebe es hautnah an der merkwürdigen Nicht-Rezeption meiner diesbezüglichen Bücher „Gastfreundfreundschaft der Kulturen“ (1994) oder „Kultur – in der Kunst der Begriffe“ (2007). Aufgrund jener dumpfen Brusttöne haben wir immer noch keine qualifizierten Instanzen, in denen differenziert und praxisnah über die Zukunft unseres Kontinents nachgedacht, vielmehr vorgedacht wird.
Titel: | Für Europa |
Untertitel: | Ein Manifest |
Autor: | Daniel Cohn-Bendit, Guy Verhofstadt |
Jahr: | 2012 |
Verlag: | Carl Hanser Verlag |
Genre: | Sachbuch |
Aufmachung: | 240 Seiten, gebunden |