Von WILLY WIMMER
So richtig wahrgenommen haben die Deutschen noch nicht, dass sich aus einer knappen Formulierung im Koalitionsvertrag der CDU-CSU-SPD-Bundesregierung eine dramatische Veränderung im Charakter unseres Landes ergeben könnte. Denn nach dem Willen der Großkoalitionäre sollte eine Kommission gebildet werden, um den sogenannten „Parlamentsvorbehalt“ den Anforderungen aus dem NATO-Bündnis anzupassen. Der Parlamentsvorbehalt besagt, dass Militäreinsätze der deutschen Streitkräfte der vorherigen Zustimmung des Bundestages bedürfen.
Die Kommission wurde inzwischen eingesetzt – und sogleich geschnitten, weil weder die „Linke“ noch die „Grünen“ sich an den Kommissionsberatungen beteiligen wollten: Sie sehen zu Recht keine Notwendigkeit darin, die bisherigen Regelungen substanziell zu verändern. Bei den Grünen eigentlich verblüffend, greifen sie doch, wie die Vergangenheit zeigte, gleich zu den Waffen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Bei den Linken erstaunlich, da bestimmte Kräfte in der Parteiführung eigentlich alles daran setzen, sich durch opportunes Verhalten bei Bundeswehreinsatzfragen für künftige Regierungsbildungen zu qualifizieren.
Angesichts der erdrückenden Mehrheitsverhältnisse im Bundestag operiert eine Kommission dieser Art ohnehin schon hart an der Grenze zur Farce
Den Sozialdemokraten wiederum steht das Unwohlsein in dieser Frage „auf die Stirn“ geschrieben. Sie hatten schon in der Vergangenheit zwischen der Kriegsentscheidung von Kanzler Schröder gegen die Bundesrepublik Jugoslawien und der Einsatzverweigerung desselben hinsichtlich Vor-Ort-Einsätzen der Bundeswehr im Irak-Krieg ihre Konsequenzen gezogen. Doch bei der fraglichen Kommission nun machen sie, wohl aus großkoalitionärer Überzeugung, mit.
Treibende Kraft für die Abschaffung jenes Vorbehalts ist indes die CDU/CSU. Seit dem Krieg gegen Belgrad ist sie der unbequemen Auseinandersetzung über die Rechtmäßigkeit solcher Einsätze überdrüssig. Im Rahmen einer öffentlichen Debatte der Bevölkerung gegenüber Farbe bekennen zu müssen, darin liegt doch gerade die staatspolitische Notwendigkeit, der Sinn des bedeutsamen „Parlamentsvorbehalts“: deutlich zu begründen, warum Soldatinnen und Soldaten wie auch zivile Mitarbeiter der Bundeswehr in fremden Kriegen eingesetzt werden sollen. Begründungszwang eben und kein feiges Verstecken hinter „von außen veranlassten“ NATO-Entscheidungen oder Forderungen aus dem Kreis der Europäischen Union.
Unter den gegebenen Umständen hätte eine „Parlamentskommission“ also gar nicht ins Leben gerufen werden dürfen. Warum war hier nicht der Präsident des Parlaments zur Stelle, der doch der Hüter von dessen Selbstverständnis sein soll? Angesichts der erdrückenden Mehrheitsverhältnisse im Bundestag operiert eine Kommission dieser Art ohnehin schon hart an der Grenze zur Farce: als parlamentarische „Rumpfgruppe“ mit verfassungspolitischem Putschcharakter. Eine „NATO-Junta“ lässt grüßen, denn damit geht die tatsächliche „Befehls-und Kommandogewalt“ auf den amerikanischen NATO-Oberbefehlshaber über. Sowohl die Bundesregierung als auch der Deutsche Bundestag werden ohnmächtig mit ansehen müssen, für welche Interessen die Bundeswehr demnächst herangezogen werden wird.
Der CSU-Politiker Peter Gauweiler hat in einer dramatischen Rede vor den Absolventen der Bundeswehr-Universität in Hamburg am 4. Juni 2014 deutlich gemacht, was es mit diesem Begründungszwang auf sich hat. Sein Hinweis hat es in sich: Wenn die Verfassungsbestimmungen über die deutschen Streitkräfte nicht überdehnt und zum Platzen gebracht werden sollen, muss Deutschland sich in diesen Fragen entweder eine neue Verfassung geben oder in einem zügigen Prozess intern Sorge dafür tragen, die Aufgaben der Bundeswehr wieder in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz zu bringen. Und das sieht eindeutig vor, dass Deutschland Streitkräfte nur zur Verteidigung unterhält und diese Klarstellung ist nach der Definition ausschließlich an die Verteidigung des eigenen Landes oder des Bündnisgebietes gebunden.
Die USA sind in hohem Maße erfindungsreich darin, Bedrohungen selbst ins Leben zu rufen, gegen die man dann mit koalitionswilligen Hintersassen ins Feld ziehen kann
Daran hatte auch der NATO-Beitritt der Bundesrepublik Deutschland 1955 nichts geändert, ebenso nicht der Verbleib in diesem Pakt nach der Wiedervereinigung 1990. Der Bundestag hatte damals dem Beitritt zu einem Verteidigungsbündnis zugestimmt und nicht zu einer Allianz, die außerhalb des Geltungsbereiches des NATO-Vertragsgebietes völkerrechtswidrige Kriege in Folge angezettelt oder sich daran in der ein oder anderen Weise beteiligt hat. Das Bundesverfassungsgericht mag dazu zwar eine Menge regierungsfreundlicher Opportunität bemühen. Augenfällig sind jedoch die öffentlichen Stellungnahmen der mitwirkenden Verfassungsrichter, wenn sie sich außerhalb jedweder Dienstverpflichtung dazu äußern können.
Neben der für einen Rechtsstaat wichtigen Frage, inwieweit die Verfassungswirklichkeit überhaupt noch mit dem Grundgesetz übereinstimmt, ist auch die Haltung der Bevölkerung entscheidend. Seit dem Verzicht auf die Wehrpflicht hat sie ohnehin weniger Anbindung an Regierungs- und Parlamentsentscheidungen, was den Einsatz der Bundeswehr angeht. Bestimmt wird die Haltung von der außen- und sicherheitspolitischen Gesamtlage, im Wesentlichen also den von den Vereinigten Staaten als deutschem Bündnispartner zu verantwortenden Kriege in allen Teilen der Welt, aktuell im am Horizont heraufziehenden und vom Westen ausgehenden Großkonflikt mit der Russischen Föderation über die Ereignisse in Syrien und der Ukraine.
Nicht nur der ständige Versuch in der NATO – wie der letzte Gipfel in Wales am 4./5. September 2014 in aller Deutlichkeit und zum wiederholten Male gezeigt hat – am deutschen Volk vorbei deutsche Soldaten für globale amerikanischen Kriege heranziehen zu wollen, bestimmt die Gemütslage hierzulande. Das wird gleichsam dadurch befeuert, dass nach dem Modell der von den USA und ihren nahöstlichen Freunden geschaffenen Taliban in Afghanistan jetzt die gleichen Muster in Syrien und dem Irak mit den Mörderbanden des „Islamischen Staates“ wieder auftauchen. Die USA sind in hohem Maße erfindungsreich darin, Bedrohungen selbst ins Leben zu rufen, gegen die man dann mit koalitionswilligen Hintersassen ins Feld ziehen kann. Augenscheinlich wird nichts unversucht gelassen, in Syrien – mit Einsätzen an den Vereinten Nationen vorbei – doch noch gegen das ehemalige „Kerry-Hätschelkind“ Assad vorgehen zu können.
Vor diesem Hintergrund geht die Große Koalition in Berlin, zum Äußersten entschlossen, nun also daran, die „Geschäftsgrundlage“ für den Einsatz deutscher Soldaten außerhalb und innerhalb der eigenen Grenzen zu beseitigen. In der Mainstreammedien wird über „Petitessen“ wie etwa den berüchtigten Artikel 222 des Lissabon-Vertrages längst nicht mehr berichtet. Selbst dann nicht, als aus Brüssel durchgesickert war, man hätte dort vor wenigen Wochen abgenickt, dass demnächst die Bundeswehr dazu eingesetzt werden dürfe, soziale Unruhen im eigenen Land niederzuschlagen.
Weil man öffentlichen Aufruhr bei den Entscheidungen zum Lissabon-Vertrag befürchtet hatte, wurde der besagte Art. 222, die sogenannte „Solidaritätsklausel“, 2009 noch zurückgestellt. Fast im „Schatten der politischen Dunkelheit“ hat Brüssel das nun nachgeholt. Dabei war schon der von der Bundesregierung verabschiedete Lissabon-Vertrag eindeutig genug: Wenn es die Klägerformation Gauweiler und Gysi vor dem Bundesverfassungsgericht nicht gegeben hätte, wäre jedwede parlamentarische Mitbestimmung über Militäreinsätze nach den Modellen der Französischen Republik und den Wünschen Washingtons und Londons damals schon beseitigt worden.
Eine funktionierende öffentliche Meinung stellt sicher, dass nicht jede Einsatzentscheidung mit Hinweis auf die „Bündnissolidarität“ einfach so durchgewunken werden kann
Manche meinen, der heute im Bundestag etablierte „Parlamentsvorbehalt“ sei eh belanglos, da die Koppelwirkung zwischen den regierenden Parteien der Großen Koalition ihr Abstimmungsziel ohnehin erreichen. Trotzdem stellt eine funktionierende öffentliche Meinung sicher, dass nicht jede Einsatzentscheidung mit Hinweis auf die „Bündnissolidarität“ einfach so durchgewunken werden kann. Es herrscht in Berlin Begründungszwang bei Militäreinsätzen. und das ist gut so.
In dem Maße, wie etwa in der Ukraine öffentlich-rechtliche Fernsehsender aus Deutschland mit Gruppen des Milliardärs George Soros und dessen Umsturzorganisationen „Nachrichten-Pools“ bilden oder führende deutsche Journalisten mit Funktionen in transatlantischen Councils sitzen, ist es mit der Medienfreiheit und -vielfalt nicht mehr weit her. Eine wachsame und aufgeklärte parlamentarische wie außerparlamentarische Öffentlichkeit ist deshalb umso wichtiger, denn auf die Medien als Kontrollinstanz kann nicht mehr gesetzt werden. Der Parlamentsvorbehalt verkörpert die letzte Chance für die Bevölkerung, nicht in einen Krieg hineingezogen zu werden, dem sie nicht zugestimmt hat.
Wenn diese letzte Bastion allerdings fällt und die Beseitigung durch vorgebliche Formelkompromisse und andere Täuschungselemente kaschiert werden kann, hat weder der Bundestag noch die Bundesregierung mehr eine Mitwirkungsmöglichkeit an Militäreinsätzen der Bundeswehr, weil in einer „logischen Sekunde“ die Entscheidungsgewalt von Berlin nach Brüssel an den NATO-Oberbefehlshaber und damit an die USA geht. Das Vehikel dafür: das Durchsetzen der NATO-Strukturen mit integrierten Formationen, die angeblich notwendig werden, weil die Staaten auf eigene militärische Fähigkeit aus Wer-weiß-welchen-Gründen verzichtet haben. Dann ist die Welt endlich schön, weil alles Bündnissolidarität sein wird. Deutschland aber wird ein ganz anderes Land werden, wenn es jenen subversiven Kräften gelingen sollte, den bestehenden „Parlamentsvorbehalt“ auch nur in kleinen Teilen zu verändern ...