Russland in die WTO – warum jetzt?

Oder auch: Die Welthandelsorganisation auf dem Weg in die Transformation?

Von KAI EHLERS

Am 22. August 2012 unterschrieb Wladimir Putin das Beitrittsdokument Russlands zur WTO, der Welthandelsorganisation. Was verspricht sich das Land von diesem Beitritt? Und warum gerade jetzt? Was wird geschehen? Russland-Experte Kai Ehlers wagt einen Blick in die nahe Zukunft.

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Schauen wir für einen Moment zurück: In seiner Jahresansprache vor der Föderalversammlung vom 18. April 2002 erklärte Putin, damals noch in seiner ersten Amtsperiode, man habe sich lange in der Illusion gewiegt, dass das Ende der Periode militärischer und politischer Konfrontation in der Welt Russland sozusagen automatisch den Weg zur Integration in das Weltwirtschaftssystem geöffnet habe, und „dass die Welt uns in wirtschaftlicher Hinsicht mit offenen Armen empfangen“ werde. Nun habe sich aber herausgestellt, dass die heutige Welt zugleich von „erbitterter Konkurrenz“ geprägt sei, von „Konkurrenz um die Märkte, um Investitionen, um politischen und wirtschaftlichen Einfluss“. In diesem Kampf müsse Russland stark und wettbewerbsfähig sein. Niemand wolle Russland angreifen, aber es warte auch niemand auf Russland; Russland müsse sich seinen „Platz an der Sonne“ selber erkämpfen: „Wir müssen lernen, die Vorteile der neuen Situation der Weltwirtschaft auszunützen: Es ist offensichtlich, dass sich für Russland das Problem einer Wahl zwischen Eingliederung  in den Weltwirtschaftsraum  oder Nichteingliederung nicht stellt.“

Die WTO, so Putin weiter, „ist weder absolut gut noch absolut schlecht. Sie ist auch keine Belohnung für gute Führung. Die WTO ist ein Werkzeug. Derjenige wird stark, der mit ihr umgehen kann. Derjenige, der nicht mit ihr umgehen kann oder will, der sich weigert zu lernen, der sich lieber hinter protektionistischen Quoten und Zollvorschriften verbarrikadiert, wird verurteilt, vollständig verdammt, um strategisch zu sprechen. Unser Land ist noch vom Prozess der Regelformulierung für den Welthandel ‚ausgeschlossen’, dieses Welthandels, in dem wir bereits präsent sind, ohne dass es uns gestattet wird, die Regeln mitzubestimmen. Daraus ergibt sich als Konsequenz, dass unsere Wirtschaft sich nicht entwickelt und das unsere Wettbewerbsfähigkeit abnimmt.“ Es gehe also darum, „die WTO als Instrument zur Verteidigung nationaler Interessen Russlands auf den Weltmärkten“ zu nutzen, sich „neue eigene Nischen zu sichern“. Dafür müssten die „Staatsstrukturen gestärkt“, und „qualifiziertes Personal ausgebildet“ und eine „Plattform entwickelt“ werden, auf der Staat und Geschäftswelt das Pro und Contra zur WTO miteinander entwickeln könnten.

Als Putins „Kommando“ sich anschickte, diesen Kurs unter dem Stichwort der „Monetarisierung“ einleiten zu wollen, stieß es auf unerwarteten Widerstand in der Bevölkerung

Putins WTO-Programm endete mit den Worten: „Das Parlament wird eine große Arbeit auf sich nehmen müssen, um unsere Rechtsprechung mit den Normen der WTO in Einklang zu bringen. Die neue Fassung der Zollgesetze, die Gesetze, welche die technischen Reglementierungen betreffen, Protektionsmaßnahmen, Antidumpingregelungen, Entschädigungen und die Rechte auf geistige Urheberschaft sind von äußerster Bedeutung. Wir können nicht mit verschränkten Armen verharren, wir müssen uns bewegen. Es versteht sich von selbst, dass die Führung die Konsultationen mit den Industriellen wie obligatorischerweise auch mit den Gewerkschaften fortsetzen  müssen. Alle müssen sich an dem Prozess beteiligen und die Meinung aller muss berücksichtigt werden.“

Ein Gesetz zur Anpassung der russischen Rechtswirklichkeit an die WTO-Normen begleitete dieses präsidiale Programm. Es war bereits 1991 verabschiedet worden; seit Putins Rede 2002 stand seine beschleunigte Umsetzung auf der russischen Tagesordnung. Das bedeutete, schrittweise Vorbereitung auf die Unterordnung Russlands unter das zentrale Ziel der WTO, die Liberalisierung des internationalen Handels, einschließlich der Unterordnung unter die Ziele der Teilorganisationen GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen), GATS (Regelungen für den Dienstleistungsverkehr), TRIPS (Regelungen zum Schutz des geistigen Eigentums) und TRIMS (Regelungen für handelsbezogene Direktinvestitionen).

Konkret hieß das, die russische Wirklichkeit mit den Forderungen der WTO nach Liberalisierung des Energiemarktes, nach Aufhebung der Subventionen für heimisches Gas und Öl, mit der Öffnung für ausländische Investitionen in Schlüsselindustrien, mit der Öffnung des Marktes für Importe agrarischer Produkte, mit der Streichung von Subventionen für die Landwirtschaft, mit Forderungen nach Kommerzialisierung von bis dahin noch unentgeltlich zur Verfügung stehenden kommunalen Leistungen in Übereinstimmung zu bringen. Kurz, sich die Forderungen der WTO wirklich zu eigen zu machen, lief darauf hinaus, eine neue Phase der Privatisierung einzuleiten, und um es noch deutlicher und unmissverständlicher zu formulieren, es lief darauf hinaus, der ersten Welle der „Schocktherapie“ unter Boris Jelzin, nachdem dessen Folgen soeben durch Putin ansatzweise aufgefangen worden waren, einen zweiten, ebenso radikalen Schock folgen zu lassen.

Wladimir Putin (re.) wollte Russland bereits 2002 in der WTO wissen, was damals auf unerwarteten Widerstand in der Bevölkerung stieß. Seine beschwichtigenden Zugeständnisse stellten sich auch bei dem ihm folgenden Dimitri Medewedew (li.) als Spiel auf Zeit heraus(Quelle: Wikimedia Commons)

 

Als Putins „Kommando“ sich anschickte, diesen Kurs unter dem Stichwort der „Monetarisierung“ einleiten zu wollen, stieß es auf unerwarteten Widerstand in der Bevölkerung, die sich in – für Russlands damalige Verhältnisse – massenhaften Protesten von Rentnern, Studenten und anderen gegen die beabsichtigten Kürzungen und Absenkungen des Lebensniveaus sperrte. Putin ruderte zurück und verkündete stattdessen ein Programm der vier „nationalen Projekte“. Er versprach, den Bildungsbereich, die Gesundheitsfürsorge, das Wohnungswesen und die Landwirtschaft im Interesse einer Anhebung des allgemeinen Wohlstands der Bevölkerung vorrangig zu fördern. Damit konnte die soziale Ruhe gewahrt werden. Tatsächlich blieb dieses Programm jedoch in Absichtserklärungen hängen; es wurde dann von Medwedew übernommen, blieb allerdings auch in dessen Amtszeit mehr Versprechen als Realität. Damit hatte es allerdings seine eigentliche Funktion durchaus erfüllt – nämlich den Volkswiderstand gegen eine neuerlich drohende Privatisierung abzufälschen. Das hieß auch, die Fortsetzung der Privatisierung nach Vorgaben der WTO und ihrer Unterorganisationen zunächst weiter auf verdeckterer Flamme, d. h., nicht auf breiter Front, sondern in Einzelmaßnahmen im Rahmen dieser „Projekte“ zu betreiben.

Noch während der Unterzeichnungsprozeduren sind ernste Differenzen zwischen USA und EU einerseits und Gazprom/Russland andererseits aufgetaucht

Das betrifft, um eine Vorstellung zu geben, z. B. die Einführung des „Einheitlichen Staatsexamens“ (russisch: EGE) nach den Bologna-Vorgaben, weiterhin den Bau neuer teurer Privatkliniken, bei gleichzeitiger Vernachlässigung des vorherigen Polyklinksystems, das betrifft die Umstellung des Wohnungsbaus und der Wohnungsverwaltungen auf private Firmen, ohne für eine Kontrolle  dieser Firmen zu sorgen und dergleichen mehr.

Hinzu kam der Krieg mit Georgien, der ebenfalls für Verzögerungen der Aufnahmeverhandlungen zwischen Russland und der WTO sorgte, weil und solange sich Georgien gegen die Aufnahme Russlands in die WTO sperrte.

So ist die Zeit des Tandems, in der Dimitri Medwedew Wladimir Putin im Amt des russischen Präsidenten vertrat, entgegen allen äußeren Anzeichen einer „sozialeren“ und einer „wirklich liberaleren“ Politik, eine Übergangszeit gewesen, welche die verschobene, aber nicht aufgehobene zweite Phase der Privatisierung Schritt für Schritt, salopp gesagt, in Salamitaktik vorbereitete. Abgeschlossen wird diese Phase jetzt durch den Wiederantritt Putins zu seiner dritten Amtszeit, in der er den Faden von 2002 offen wieder aufgreift.

Aber so wenig sich das Programm geändert hat, so wenig haben sich die Fragen verändert, die mit dem Eintritt Russlands in die WTO und in ihre gesamten Unterprogramme verbunden sind; manche Fragen stellen sich heute sogar schärfer als noch zu jener Zeit. Es sind dies nach wie vor die Forderungen nach Liberalisierung des Öl- und Gasmarktes – erweitert um Forderungen nach freien Investitionsmöglichkeiten für ausländisches Kapital in allen anderen Bereichen. Noch während der Unterzeichnungsprozeduren sind ernste Differenzen zwischen USA und EU einerseits und Gazprom/Russland andererseits aufgetaucht, die Gazproms Auslandsinvestitionen betreffen. Diese Differenzen werden mit Sicherheit vor der Streitschlichtungsstelle der WTO landen.

Es ist dies nach wie vor das Problem der nur mangelhaft und nur in einigen Branchen und einzelnen Betrieben verlaufenden Modernisierung, das mit Sicherheit dazu führen wird, dass eine tödliche Differenzierung zwischen „konkurrenzfähigen“ Betrieben, die auch für ausländisches Kapital interessant sind, und Altbetrieben – vor allem in den Regionen – stattfinden wird, die der Konkurrenz auf einem global geöffneten Markt nicht werden standhalten können. Mehr noch, der Zustand des industriellen Maschinenparks, einschließlich der allgemeinen Infrastruktur des Landes hat sich – abgesehen von regionalen oder branchenmäßigen Musterbereichen – weiter verschlechtert. Mit anderen Worten: Der Speck aus der Sowjetzeit, der die erste Phase der Privatisierung 1991/1992 und sogar den Zusammenbruch 1998 noch trug, ist heute weitgehend verbraucht.

Es ist schließlich die Tatsache, die von westlichen „Experten“ wieder und wieder beklagt wird, dass immer noch gut 50 % der russischen Gesellschaft nicht nach kommerziellen Gesichtspunkten organisiert ist und Konkurrenz, Wettbewerb und „Leistungswille“ auch nach 25 Jahren Privatisierung nach wie vor nicht die herrschende Ideologie in Russland sind. Stattdessen herrscht eine stille Resistenz gegenüber der von oben betriebenen „Monetarisierung“ des Lebens, die sich auf die trotz aller Modernisierung immer noch existierenden, manchmal sogar gerade durch sie erneut provozierten, traditionellen Strukturen gemeinschaftlicher, örtlicher und regionaler Selbstversorgung stützt.

Die reale Politik der WTO zeigt, dass sich nur diejenigen „eine Nische erkämpfen“ können, die in der Lage sind, sich auf dem Parkett dieses internationalen „Systems“ durchzusetzen

Auch die von Putin seinerzeit geforderte Stärkung der Staatsstrukturen, die Ausbildung qualifizierten Personals und die Entwicklung einer „Plattform, auf der Staat und Geschäftswelt das Pro und Contra zur WTO miteinander entwickeln könnten“, scheint – trotz aller Bemühungen – noch nicht wirklich gegriffen zu haben. Die große Mehrheit der Bevölkerung hat zudem von einer WTO noch nie etwas gehört; und der neue Handelsminister, Denis Manturowutrow, am Tag der Unterschrift Putins von einem Korrespondenten des „Handelsblattes“ zur Zukunft der zukünftigen russischen Aktivitäten in der WTO befragt, erklärt in verblüffender Naivität: „Wir passen  uns einem neuen System an und werden erst im Laufe des Prozesses verstehen, wie alles funktioniert.“

Nun ist russische Spontaneität ja sehr liebenswert und zweifellos auch eine besondere Fähigkeit russländischer Menschen, aber angesichts der Dimension dieses Schrittes doch vielleicht ein bisschen problematisch. Die reale Politik der WTO zeigt, dass sich nur diejenigen „eine Nische erkämpfen“ können, die in der Lage sind, sich auf dem Parkett dieses internationalen „Systems“ durchzusetzen, das zwar allen Mitgliedern gleiche Rechte zuspricht, in der Realität aber die schwächeren und weniger „qualifizierten“ übervorteilt.

Zu erinnern ist hier nur an die Auseinandersetzung in der „Doha-Runde“ der WTO, benannt nach der Hauptstadt Katars, wo sie 2001 zum ersten Mal tagte. Ziel der Doha-Runde war es, die Probleme der sog. Entwicklungsländer im Rahmen der WTO zu berücksichtigen; 2006 platzte die Runde, weil die führenden Industriestaaten zwar freien Handel von allen Mitgliedern forderten, selbst aber entgegen der Satzung der WTO nicht bereit waren, auf die Forderungen dieser Länder nach Abbau der Subventionen und Schutzzölle einzugehen. Bis heute wurde keine Einigung in der Angelegenheit erzielt.

Ob der russische Stab, der sich jetzt bei der WTO einfindet, zu denen gehören wird, die sich durchsetzen können, ist zurzeit eher mit Fragezeichen zu versehen. Zudem gelten für Russland nicht einmal die Sonderrechte, die „Entwicklungsländern“ in den WTO-Verträgen zugestanden werden. Russland gilt nicht und will nicht als Entwicklungsland gelten.

Eher sieht es unter all diesen Umständen schon so aus, dass man von russischer Seite nach altem russischem Brauch Verträge einfach nicht so genau nehmen könnte. Einige der zukünftigen WTO-Partner fühlen sich schon jetzt „veräppelt“, wie u. a. dem „Handelsblatt“ zu entnehmen war, wenn sie vom zukünftigen WTO-Mitglied Russland einerseits Investitionsfreiheit ins Aussicht gestellt bekommen, gleichzeitig aber per russischem Gesetz verpflichtet werden, selbst im Lande „lokalorientiert“ zu bauen und heimische Zwischenprodukte in ihrer Produktion zu benutzen. Irritiert zeigen sich Russlands zukünftige Partner auch, wenn seine Regierung einerseits dem Absenken der Zölle für PKW-Einfuhren zustimmt, die Duma aber mit der Begründung, der Staat müsse die gebrauchten Fahrzeuge später entsorgen, im selben Atemzug eine Abwrackprämie für importierte Autos verlangt.

 

Fast will es so scheinen, als ginge es hier gar nicht vorrangig um Ökonomie, sondern um Politik, genauer gesagt, um Putins Projekt eines autarken Russland, das er inzwischen politisch für stark genug hält, die WTO für seine eigenen Ziele zu nutzen

Wie dem auch sei, es stellt sich die Frage: Warum jetzt? Was hat sich gegenüber 2002 bzw. 2003 und 2004 derart verändert, dass die russische Regierung eine zweite Privatisierungswelle im Zuge eines WTO-Beitrittes jetzt für möglich hält, die keine Grenzen der Monetarisierung mehr kennt? Fast will es so scheinen, als ginge es hier gar nicht vorrangig um Ökonomie, sondern um Politik, genauer gesagt, um Putins Projekt eines autarken Russland, das er inzwischen politisch für stark genug hält, die WTO für seine eigenen Ziele zu nutzen.

Auf diesen Gedanken kann man kommen, wenn man sieht, dass Russland trotz Perestroika, trotz bisheriger Privatisierung, trotz Zusammenbruchs der russischen Spekulationsblase 1998, trotz schleppender Modernisierung und trotz Krise 2008/2009 immer noch als ein Land dasteht, das sich aus eigener Kraft erhalten und versorgen kann. Basis dafür sind selbstverständlich Öl, Gas und weitere natürliche Ressourcen, aber nicht nur diese, sondern auch eine historisch tief verwurzelte Kultur der gemeinschaftlichen Selbstversorgung, die bisher noch jede Krise überdauert hat, ja mehr noch, Basis für deren Überdauern war.

Die Priorität der Politik schimmert auch durch, wenn man erkennt, dass die von Putin geplante eurasische Zollunion im Rahmen des WTO-„Regelwerks“ als Quasi-Freihandelsraum Ausnahmerechte für sich in Anspruch nehmen kann, konkret: höhere Zollgrenzen setzen darf als einzelne nationale Wirtschaften. Eine eurasische Union, also Russland gemeinsam mit Kasachstan und Weißrussland, könnte den die Nutzung der Möglichkeiten der WTO (Zugang zu den globalen Märkten für die eigenen Waren und das eigene Geld) mit dem Schutz durch eine privilegierte Zollunion verbinden wollen.

Keineswegs allzu fern liegt zudem die Möglichkeit, dass aus der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) eine noch weiter gefasste Zollunion hervorgeht, die dann ein noch größeres Stück aus der WTO herauszuschneiden imstande sein könnte.

Und schließlich ist offensichtlich, dass das Weltfreihandelsprogramm der WTO, die „Global Corporate Governance“ sich in einer tiefgreifenden, existenziellen Krise befindet, angesichts derer die Russen sich ausrechnen können, die Regeln der Weltorganisation zu ihren Gunsten auslegen und nutzen zu können – wobei eigene Gunst nicht heißt, zugunsten der Mehrheit der russischen Bevölkerung, sondern zugunsten einer privilegierten Elite.

Je erfolgreicher sich das Land den Verwertungsregeln der WTO unterwirft, um so klarer wird der Bevölkerung deren Charakter als Instrument, das die Mehrheit der Bevölkerung im Namen einer Minderheit auspresst

Hier liegt natürlich letzten Endes der Knackpunkt, die absehbare Bruchstelle der gesamten, globalen WTO-Konstruktion, gleich ob aus Sicht des internationalen Kapitals oder aus russischer Sicht betrachtet. Natürlich deshalb, weil solche expansiven Prozesse ihre unvermeidlichen Widersprüche hervorbringen, Es ist nicht vorauszusehen, wann, wie und für welche Teile der Bevölkerung die Schmerzgrenze erreicht ist, in der die Privatisierung der noch verbliebenen Gemeingüter, der Niedergang der Betriebe und die damit verbundene Absenkung des Lebensstandards, die Kommerzialisierung der Sozialdienste, die Unterwerfung des gesamten Lebens unter die ökonomischen Zwänge bei der davon in Mitleidenschaft gezogenen Bevölkerung nicht mehr in den Grenzen stiller Resistenz, gegebenenfalls noch spontaner Verweigerung verbleibt, sondern sich in offenem Widerstand äußert. Man kann eigentlich nur noch das Paradoxon formulieren, dass Russlands WTO-Perspektive – und damit die Perspektive der WTO überhaupt – genau in dem Maße obsolet wird, in dem sie sich erfolgreich entwickelt. Je erfolgreicher sich das Land den Verwertungsregeln der WTO unterwirft, um so klarer wird der Bevölkerung deren Charakter als Instrument, das die Mehrheit der Bevölkerung im Namen einer Minderheit auspresst.

An dieser Stelle könnte man sich beruhigt zurücklehnen, weil diese kritische Wende und damit diese Erkenntnis mit Sicherheit kommt, so wie schon nach der ersten Privatisierungswelle bei vielen Menschen Ernüchterung einsetzte und damit das Ende der WTO, wie wir sie heute kennen, am Horizont erscheint – leider ist aber ebenso sicher, dass diese Erkenntnis durch Opfer erkauft wird. Bleibt die Aufgabe, die Opfer so gering wie möglich zu halten und zugleich eine andere als die zurzeit noch herrschende Handelsordnung zu denken.

 

LITERATUR