Damals wurde mit START I die Obergrenze der atomaren Gefechtsköpfe auf 6.000 und dann im Moskauer SORT-Vertrag (Strategic Offensive Reduction Treaty) aus dem Jahr 2002 auf 2200 festgeschrieben. 2011 liegt der neue Grenzwert der beiden Atommächte bei 1550 dislozierten1 und einsatzbereiten strategischen Gefechtsköpfen2. Bei genauerer Betrachtung der Zählregeln fallen die in New START vereinbarten Reduzierungen insgesamt moderat aus: Es wird u. a. bei den Bombern nur ein Gefechtskopf je stationiertem Trägersystem angerechnet, das tatsächliche Zulade- und Nachladepotenzial jedoch wesentlich größer ist.
Verwirrend ist auch die Arithmetik dieses neuen START-Vertrages.3 So fallen nur Nuklearwaffen unter diesen Vertrag, die operativ verladen und unmittelbar einsetzbar sind. Die somit frei gewordenen nukleare Sprengköpfe müssen nicht zerstört, sondern können ohne Begrenzung gelagert werden. Sie stellen ein wesentlich höheres Zulade- und Bedrohungspotenzial dar.4 Da auch die Zahl der landgestützten Interkontinentalraketen in ihrer Zahl vorerst erhalten bleiben, ist die wirkliche Abrüstung marginal.5 Das bestätigt auch ein genauer Blick in die "Nuclear Posture Review". Anfang Mai 2010 legten die USA erstmals genaue Zahlen über ihr Atomwaffenarsenal offen. Demnach verfügt das Land nach Angaben des Pentagons über 5113 Atomsprengkörper.6 Mit dieser Veröffentlichung wollte die US-Regierung "im Namen der atomaren Nichtweiterverbreitung die Transparenz über die Arsenale erhöhen"7.
Die NATO hat sich zu keinem Verzicht auf die taktischen US-Atomwaffen in Europa und den Ersteinsatz von Nuklearwaffen durchringen können
Durch die angestrebte "Verkleinerung" der Arsenale werden die USA und Russland nicht gezwungen, die Struktur ihrer Nuklearstreitkräfte substanziell zu verändern. Hinzu kommt, dass die kleineren, taktischen Atomwaffen von dem neuen START-Vertrag nicht betroffen sind. Zwanzig davon sind in Büchel/Rheinland-Pfalz stationiert. Zudem wollen die USA die Fähigkeit zu Präzisionsschlägen über weite Distanzen – "Prompt Global Strike" (PGS) – ausbauen. Weiterhin erlaubt New START die Modernisierung und die Entwicklung neuer strategisches Systeme (Art. V.). Im Zuge der Ratifizierungsdebatte versprach die Obama-Administration, über die nächsten zehn Jahre 180 Milliarden US-Dollar für die Aufrechterhaltung der amerikanischen Atomwaffenfähigkeit auszugeben. Das schließt Ausgaben nicht nur für die Atomsprengköpfe selbst ein, sondern auch für die Trägermittel, also neue Atom-U-Boote, neue Bomber usw. Und bei einer solchen, selbst für amerikanische Verhältnisse großen Summe stellt sich nicht nur für den Abrüstungsexperten Oliver Meier die Frage, wie ernsthaft das amerikanische Versprechen, eine atomwaffenfreie Welt anzustreben, tatsächlich noch zu nehmen ist.
Auch hat sich die NATO auf ihrem Gipfel im November 2010 in Lissabon zu keinem Verzicht auf die taktischen US-Atomwaffen in Europa und den Ersteinsatz von Nuklearwaffen durchringen können. Als hinderlich für weitere Abrüstungsschritte wird sich vermutlich auch die von den USA und der NATO beschlossene Raketenabwehr erweisen. Damit bleibt, wie Bill Wickersham in der Columbia Daily Tribune schreibt, die Bedrohung des "nuklearen Winters" erhalten.
Für den ehemaligen US-Botschafter in Deutschland, Richard Burt, hat sich die Welt seit dem Kalten Krieg sehr verändert. Auch er hält als Vorsitzender von "Global Zero" eine Welt ohne Atomwaffen für erstrebenswert. Die Annäherung der USA und Russlands sind für ihn der erste Schritt in diese Richtung.8 Scheinbar ähnlich äußerte sich auch Obama mit dem, was er nach der Ratifizierung verkündete: "Wir werden unsere Beziehungen zu Russland weiter verbessern. Das ist ganz entscheidend, um Fortschritte bei der Bewältigung einer Reihe von Herausforderungen zu erzielen." Doch gleich im Folgesatz ließ der Friedensnobelpreisträger die Katze aus dem Sack: "Es geht darum, starke Sanktionen gegen den Iran durchzusetzen."9
Bereits im Juli 1991 – fünf Monate vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion – wurde der erste START-Vertrag von George Bush sen. und Michail Gorbatschow unterzeichnet und von vielen als Schlüsseldokument zur Beendigung des Kalten Krieges gewertet. Doch wie sah die Wirklichkeit aus?
Das Marshall-Center entwickelte sich seit seiner Gründung zum Dreh- und Angelpunkt der deutsch-amerikanischen Beziehungen auf politischer und militärischer Ebene
Nach Auflösung der Sowjetunion wechselten die USA ihr strategisches Konzept der Eindämmung einer angeblich nach Hegemonie strebenden expansionistischen eurasischen Kraft. Erklärtes Ziel der US-Politik war nun die Verdrängung Russlands aus der Region Zentralasien und des Kaspisches Meeres. Der ehemaligen eurasischen Hauptmacht durften nicht die Erdöl- und Gasressourcen sowie die Herrschaft über die Pipelines für den Transport überlassen werden. Zudem grenzt dieses hochbrisante Gebiet noch an politisch schwierige Länder wie China, den Irak, den Iran und Afghanistan. Sie stellen potenzielle oder – wie im Irak und Afghanistan – tatsächliche Krisenherde dar.
Die US-Administration unter Bush sen. erkannte die geopolitische Bedeutung dieser Region und gründeten zusammen mit der Bundesrepublik Deutschland eine Kaderschmiede („Marshall Center“) für Militärs und Politiker aus den Ländern dieses Krisengürtels gemäß Wilsons Wahlspruch “To Make the World Safe for Democracy“. Dazu weitete das US-European Command (EUCOM) seine "Kontakte" zu den jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit aus und entwickelte Konzepte für demokratische Sicherheitsstrukturen. Ziel war es, einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der abgefallenen ehemals sowjetischen Länder zu nehmen. Im November 1992 unterzeichnete der damalige US-Verteidigungsminister Dick Cheney die Direktive 5200.34 des Verteidigungsministeriums.10 Durch sie wurde das nach dem ehemaligen US-Generalsstabschef, Außenminister und Friedensnobelpreisträger George Catlett Marshall11 benannte Zentrum für Sicherheitsstudien eine Einrichtung des US-European Command.
Von Anfang an arbeiteten dabei Deutsche und Amerikaner erfolgreich zusammen. Beide Regierungen teilen sich den jährlichen Etat von etwa 27 Millionen US-Dollar. Obwohl von den annähernd 300 Mitarbeitern im Marshall Center lediglich zehn Prozent Deutsche sind, entwickelte sich dieses Center seit seiner Gründung zum Dreh- und Angelpunkt der deutsch-amerikanischen Beziehungen auf politischer und militärischer Ebene.12
"Der Fall des Eisernen Vorhangs, der Freiheitswille der Völker im östlichen Europa, ein Europa auf dem Weg in eine bessere, wenn auch noch ungewisse Zukunft – dies war vor einem Jahrzehnt der historische Hintergrund für die Einrichtung dieses transatlantischen Instituts“, so Minister Struck am 11. Juni 2003 in seiner Rede zum zehnjährigen Bestehen des Zentrums.13
Zahlreiche Absolventen der Lehrgänge am Marshall Center sind heute ranghohe nationale Minister, Generalstabschefs, Generäle und Botschafter. Im März 2009 etwa waren 199 Absolventen in folgenden Positionen tätig: Parlamentssprecher (1), Minister (11), stellvertretende Minister (28), Verteidigungschef (9), Botschafter (94) und Parlamentsabgeordnete (56).
Mittlerweile ist das Center eine namhafte internationale Bildungseinrichtung für die demokratische Elite von 48 Staaten aus Ost-, Mittel-, Südosteuropa, der ehemaligen Sowjetunion und Eurasien. Als Forum für sicherheits- und militärpolitische Kontakte soll es so zur Schaffung einer Gemeinschaft der Nationen vom Atlantik bis einschließlich Eurasien beitragen.
Schon im Februar 1992 zirkulierte in den höchsten Etagen des Pentagon ein 46-seitiges Dokument, betitelt "Defense Planning Guidance"
Schon im Februar 1992 zirkulierte in den höchsten Etagen des Pentagon ein 46-seitiges Dokument, betitelt “Defense Planning Guidance“. In diesem klassifizierten Papier wurde festgehalten, dass mögliche aufstrebende Konkurrenten zu verhindern seien.14
Nun entwickelte sich eine "Hegemonie neuen Typs", die auf der Überlegenheit der amerikanischen Kultur und der Überlegenheit der amerikanischen Machtentfaltung beruhen und durch Interventionen abgesichert werden sollte. Gleichzeitig hoffte man, den "globalen Pluralismus" zu fördern, um auf diese Weise "jedes Aufkommen eines Rivalen zu verhindern"15. Die Balkankriege eröffneten einen Reigen der Interventionen. Dazu verabschiedete US-Präsident Bill Clinton im Herbst 1998 – ein halbes Jahr vor dem Jugoslawienkrieg – die nationale Sicherheitsstrategie für ein neues Jahrhundert.
Diese neue Sicherheitsdoktrin steht klar im Einklang mit der von Zbigniew Brzezinski formulierten Carter-Doktrin: "Jeder Versuch einer anderen Macht, Kontrolle über den Persischen Golf zu gewinnen, wird von uns als Angriff auf die Lebensinteressen der USA angesehen. Ein solcher Angriff wird mit allen erforderlichen Mitteln, einschließlich militärischer Gewalt, zurückgeschlagen werden."16
Mit Annex B ging es im März 1999 in den "Albright War".17
Die Ziele hatte die damalige US-Außenministerin, nach der Krieg benannt wurde, bereits im Dezember 1998 formuliert: "Wir wollen ein Europa, das handeln kann. Wir wollen ein Europa mit modernen flexiblen Streitkräften, die in der Lage sind, Brände in Europas Hinterhof zu bekämpfen und mit und in einer Allianz unsere gemeinsamen Interessen verteidigen."18 Heute sitzt Madelein Albright einer NATO-Kommission vor und hilft, die NATO zu einer Söldnerarmee – Stichwort "Global Blackwater" – umzuformen.
Fünf Tage vor dem Krieg gegen Jugoslawien verabschiedete der Kongress das sogenannte Seidenstraßenstrategiegesetz. Darin definieren die USA in einem Korridor entlang der historischen Seidenstraße umfassende wirtschaftliche und strategische Interessen.19 Am Vorabend des Krieges ließ Clinton den wahren Kriegsgrund aus dem Sack: "Wenn wir starke wirtschaftliche Beziehungen haben werden, die unsere Fähigkeit einschließt, rund um die Welt zu verkaufen, muss Europa ein Schlüssel sein. Und wenn wir wollen, dass Leute unsere Lasten der Führung teilen, mit allen Problemen, die zwangsläufig auftauchen werden, muss Europa unser Partner sein. Nun, das ist die Bedeutung dieser Kosovo-Geschichte."20
Nur 27 Tage nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 folgte der Angriff auf Afghanistan. Diese kurze Zeitspanne müsste selbst militärische Laien stutzig machen
Während der Kämpfe feierte die NATO das 60. Jahr ihres Bestehens, verkündete eine Strategie jenseits der UN und demonstrierte die Erweiterung nach Osten. Dann wurde George W. Bush jun. Präsident. Er versprach in seiner Vereidigungsrede "die Werte unserer Geschichte zum Anliegen unserer Zeit zu machen (...) und sich mit Massenvernichtungswaffen befassen". Nur 27 Tage nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 folgte der Angriff auf Afghanistan. Diese kurze Zeitspanne müsste selbst militärische Laien stutzig machen. Wenige Wochen später definierte Bush die Achse des Bösen. In einer neuen Sicherheitsstrategie wurde nun der präemptive21 Krieg festgeschrieben. Den USA reicht nun schon eine gefühlte Bedrohung als Kriegsgrund.
Trotz des inzwischen ausgehandelten START-II-Abrüstungsabkommen setzte Bush (jun.) – ohne von der UN ermächtigt zu sein – seine Doktrin um. Entsprechend entwickeln sich die Kriege entlang der Seidenstraße.
Rechtzeitig zum Präsidentschaftswahlkampf hatte Brzezinski für Obama eine Handlungsanweisung in Buchform herausgegeben – mit dem vieldeutenden Titel "Second Chance". Darin erhält Vater Bush wegen seines taktischen Geschicks eine solide Zwei. Abzüge gibt es wegen suboptimaler Nutzung strategischer Möglichkeiten. Clinton erhielt eine schwache Drei wegen beträchtlicher Lücken zwischen Potenzial und Darstellung. Und Bush Junior bekam wegen seiner vereinfachten dogmatischen Weltsicht und eines selbstzerstörenden einseitigen Vorgehens in der Außenpolitik, geläufig als Unilateralismus, eine glatte Sechs. Nun soll es unter Obama eine zweite Chance geben. In seiner Vereidigungsrede betonte Obama, "dass wir bereit sind, wieder zu führen" und ohne Pause am Abbau der nuklearen Bedrohung arbeiten würden. Trotzig kam dann seine Bekenntnis: "Wir werden uns nicht entschuldigen für unsere Art zu leben."22 Und diese Art erzeugt einen ungeheuren Hunger nach Rohstoffen. Während des Krieges gegen den Irak jubelten daheim führende Strategen und Neokonservative über die Geburt eines amerikanischen Weltreichs nach dem Vorbild des antiken Roms. Inzwischen ist auf beiden Seiten des Atlantiks die Skepsis über diesen imperialen Vorstoß stark angewachsen. Die Vereinigten Staaten möchten der oberste Hegemon werden und ihre militärische Überlegenheit in aller Welt durchsetzen. Doch diese Politik hat die Schulden explosionsartig in die Höhe schnellen lassen und man läuft Gefahr, den Dollar endgültig zu ruinieren.
Den USA reicht nun schon eine gefühlte Bedrohung als Kriegsgrund
Unter frenetischem Jubel hat US-Präsident Obama im April 2009 in seiner vielbeachteten Prager Rede seinen Einsatz für eine friedlichere Welt angekündigt: "Wir werden damit anfangen, unser Atomwaffenarsenal zu reduzieren." Der Nachsatz wurde geflissentlich überhört: "Täuschen Sie sich nicht", so nun der Oberbefehlshaber Obama, "solange es diese Waffen gibt, werden wir ein sicheres und wirksames Arsenal zur Abschreckung potenzieller Feinde aufrecht erhalten und die Verteidigung unserer Verbündeten garantieren."23
Nur wenige Wochen nach Obamas hoffnungsvoller Rede, wurden im Mai 2010 US-Flugzeuge in Polen stationiert und US-Patriot-Flugabwehrraketen des Typs PAC-3 sowie 100 US-Soldaten in das nur eine halbe Autostunde von der russischen Grenze entfernte polnische Morag verlegt. Weiter scheint das Pentagon entschlossen, auch eine mobile landgestützte Variante der Standard Missile 3 / SM-3 – die sonst als Bestandteil des Systems AEGIS auf Schiffen Verwendung findet – auf polnischem Boden zu stationieren. Zusätzlich sollen noch mit SM-3-Raketen bestückte Kriegsschiffe der AEGIS-Klasse regelmäßig in der Ostsee patrouillieren.24 Die USA sollten nicht länger so tun, als sei die Verlegung von Abwehrraketen an die Ostflanke der NATO nicht ausschließlich gegen Russland gerichtet.25
Auf dem NATO-Gipfel von Lissabon entwickelte die von den USA geführte NATO eine Strategie, nach der die Intervention von neun Armeedivisionen im Ostseeraum vorgesehen ist. Anschließend traf Präsident Barack Obama im Weißen Haus mit seinem polnischen Gegenüber Bronislaw Komorowski zusammen und bestätigte Pläne zur verstärkten Stationierung von US-Waffen und US-Truppen in Polen.26 Die beiden Staatsoberhäupter waren sich einig darin, dass die bilateralen militärischen Beziehungen "im Geist der 2008 veröffentlichten gemeinsamen Erklärung der USA und Polens über eine strategische Kooperation"27 verstärkt werden müssten; vorgesehen ist u. a. die Stationierung von 16 US-Kampfjets des Typs F-16 und von vier Militärtransportern des Typs C-130 Hercules auf polnischen Luftwaffenstützpunkten ab dem Jahr 2013.
Die USA sollten nicht länger so tun, als sei die Verlegung von Abwehrraketen an die Ostflanke der NATO nicht ausschließlich gegen Russland gerichtet
Einen Tag nach dem Treffen mit Obama sprach Präsident Komorowski auch mit dem ehemaligen US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski und legte am Grabmal des Unbekannten Soldaten auf dem Nationalfriedhof in Arlington/Virginia einen Kranz nieder. Signale für eine friedlichere Welt sind hier nicht zu erkennen.
In Obamas neuer Nuklearstrategie fehlt auch der Verzicht auf den nuklearen Erstschlag. Ausdrücklich werden die nuklearen Angriffsoptionen gegenüber Nordkorea und dem Iran offen gehalten. Bei derart gefühlter Bedrohung wird der Iran umso hartnäckiger nach der Bombe streben. Hoffentlich bleiben der Menschheit Atompilze über dem Iran erspart.
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