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Vom Tag der Deutschen Einheit zum Tag des Zorns

Von WILLY WIMMER

In seinem Buch „Deutschland im Umbruch: Vom Diskurs zum Konkurs – eine Republik wird abgewickelt“ hatte Willy Wimmer 2018 den Weg in den Abgrund deutlich vor Augen geführt. Dieser Niedergang hat sich 2020 dramatisch beschleunigt, mahnt der langjährige Bundestagsabgeordnete und Sicherheitsexperte zum Tag der Deutschen Einheit. Doch ein Funken Hoffnung bleibt.

Es war im rheinischen Sommer 1989, als der Generalsekretär der KPdSU, Michael Gorbatschow, seinem deutschen Gastgeber, Bundeskanzler Helmut Kohl, den „Schlüssel“ in Aussicht stellte. Über Jahrzehnte hinweg hatten in Westdeutschland Politiker wie Alfred Dregger und natürlich Kohl an der staatlichen Einheit Deutschlands festgehalten und die Möglichkeit der Wiedervereinigung nie aus den Augen verloren – ganz im Gegenteil zu Heiner Geissler und dessen Jünger in der CDU.

Als es dann soweit war, drückten jene, die die Einheit Deutschlands wollten, auf die „Tube“, vor allem Gorbatschow, Kohl und George Bush sr. Auf deutscher Seite zahlte sich aus, dass man mit allen Beteiligten die Beziehungen pflegte. Dadurch gelang es sogar, die Widerspenstigen „zu zähmen“: den französischen Staatspräsidenten François Mitterand und die britische Premierministerin Margret Thatcher. Der nahezu legendäre Ausspruch Frau Thatchers vor dem Hintergrund der über Jahrhunderte verfolgten Ziele der Briten machte deutlich, nach welchen Kriterien Andere Deutschland beurteilen: Man habe den Deutschen zweimal aufs Haupt geschlagen, und jetzt sind sie wieder da.

Der Bürger ist nicht mehr der Souverän, weil „Shareholder Value“ diesen Souverän nicht länger duldet

Mit diesen Maßgaben hatte man den Ersten Weltkrieg losgetreten. Millionenfaches Leid war die Folge. Nach dem Rachediktat von Versailles 1919 war der nächste große Krieg vorprogrammiert. Der französische Marschall Foch gab dem brüchigen Frieden 20 Jahre. Die alliierte Finanzierung der Nationalsozialisten tat ihr Übriges, den Zündmechanismus in Gang zu setzen. Der Zweite Weltkrieg war letztlich noch verheerender und konnte mit der Vernichtung Deutschlands geradezu „gekrönt“ werden. Noch in den Brexit-Auseinandersetzungen wurde deutlich, wie wenig bestimmten Kräften an einer Zusammenarbeit mit Deutschland gelegen ist. Man will selbst und alleine bestimmen. Andere gehören nicht an den Tisch, seien es die Deutschen oder die Russen – und erst recht nicht die Chinesen.

Eine kurze Erinnerung an die Lage um 1989/90 macht den Unterschied zur aktuellen Politik deutlich. Die deutschen Kanzler – von Adenauer über Brandt und Schmidt bis hin zu Helmut Kohl – „konnten“ es mit ihren Partnern. Wie anders ist die Lage heute, wo die deutsche Bundeskanzlerin nahezu jede Regierung Westeuropas mit ihrer einsamen Entscheidung in Sachen Migration, Energie, oder Finanzen massiv vor den Kopf gestoßen hat. Deutschland ist auf gute nachbarschaftliche Beziehungen und eine exzellente Diplomatie angewiesen. Irritationen auf diesem fragilen Terrain sind ein Fluch für die Deutschen wie auch die sträfliche Missachtung des Friedensgebotes.

Die von den Vereinigten Staaten nach der deutschen Wiedervereinigung initiierte Politik der Amerikanisierung in Form der Globalisierung ist unter der Führung Merkels zum Maßstab der Politik im eigenen Land geworden. Der Bürger ist nicht mehr der Souverän, weil „Shareholder Value“ diesen Souverän nicht länger duldet. Der Einfluss der von in- und ausländischen Interessen bestimmten Nichtregierungsorganisationen auf die staatliche Politik hat die parlamentarische Demokratie in ihrer Substanz zerstört. Nicht allein in Deutschland, Frau Merkel geriert sich auch in der Europäischen Union als Vollstreckerin US-amerikanischer Politik. Die Bundeskanzlerin hat sich ein Europa zum Ziel gesetzt, das nicht mehr auf das Gründungselement des Nationalstaats zurückgreift. Diejenigen, die in Mittel- und Osteuropa im Stolz auf ihre Nationen leben, müssen als Konsequenz dieser deutschen Politik in ihrer Handlangerrolle das „politische Brüssel“ als eine sie in der Substanz bedrohende Instanz empfinden.

Das gilt nicht nur für Ungarn, dem in den vergangenen Jahren eine wahrhaft heldenhafte Rolle in der Bewahrung Europas und seiner Werte zugekommen ist. Auch und gerade Polen sieht mehrheitlich seine Bedeutung in diesem Zusammenhang – und das mit großer Berechtigung. Dies wird deutlich, wenn man sich ansieht, wie der aus Polen stammende Papst Johannes Paul II. oder die Gewerkschaft „Solidarität“ die Geschichte bestimmt hat. Gerade für die Politik hierzulande ist Diplomatie, Takt und Feingefühl von ganz besonderer Bedeutung, wie sich an der Beendigung der europäischen Teilung und damit der Wiederherstellung der deutschen Einheit ablesen lässt. Es war eben nicht das uns bekannte und über Jahrhunderte bestehende Deutschland in seinen Kernbereichen, dem eine neue staatliche Einheit vergönnt sein sollte. Dafür stehen Königsberg wie Breslau und Danzig. Es sollte der Gedanke des einigen Europa in der damaligen Form der Europäischen Gemeinschaft sein, der sich wie ein neuer Himmel über das wölben würde, das seit den napoleonischen Kriegen in seinen Grundfesten erschüttert worden war. Unzulänglich zwar, aber für eine Zukunft stabil genug, auch in der Absicht, eine Grenze zwischen Deutschland und Polen festzulegen.

Schäubles „Bürgerräte“ sind nur ein weiterer Sargnagel für die parlamentarische Demokratie in unserem Land

Im Rückblick erst wird deutlich, wie sehr die europäische Ordnung auf Grundlage der von de Gaulle, Adenauer und de Gasperi hervorgehobenen Nationalstaaten als Friedens- und Freiheitsprojekt getaugt hatte, indem sie für die als unlösbar geltenden und mit dem Blut der Geschichte getränkten Probleme Regelungen fand, die von gegenseitigem Verständnis getragen waren. Die deutsche Politik mit Frau Merkel an der Spitze beseitigt diese Grundlagen nachhaltig. Das friedens- und freiheitsbezogene „Europa“ wird bald Geschichte sein, vermutlich sogar Ursache für demnächst aufbrechende Konflikte. Die Spannungen auf dem Balkan bis heute sind ein Musterbeispiel für eine ausgreifende Politik gebietsfremder Mächte.

30 Jahre nach dem 3. Oktober 1990 handelt Deutschland wie ein getriebener Staat, unfähig seine eigenen Interessen wahrzunehmen und vollkommen abhängig von der demokratisch-republikanischen Machtallianz in Washington. Diese Allianz äußert sich nicht nur in den Kontrollstrukturen, u. a. durch das Pentagon und die NATO, sondern eben auch in der Dominanz entsprechender NGOs im Hinblick auf die fortschreitende Amerikanisierung respektive Globalisierung.

Dabei ist die Lage in den USA selbst brandgefährlich, wie die Auseinandersetzungen im Vorfeld des 3. November 2020, und damit der Wahl des neuen US-Präsidenten, deutlich machen. Dabei müssen sich nach dem jetzigen Stand der Dinge das Nationalstaatskonzept des derzeitigen Präsidenten Trump und seines Herausforderers Biden als Anführers der demokratisch-republikanischen Machtallianz keinesfalls widersprechen. Der 3. November kann allerdings den inneramerikanischen Weg in die Konfrontation und den Bürgerkrieg bedeuten. Wird der dann auch auf den Straßen von Kaiserslautern ausgefochten?


„Gekommen um zu bleiben“: Berliner Demo für die Freiheitsrechte der Deutschen  (Bildquelle: Querdenken 711)

 

Deutschland ist nicht der europäische „Wurmfortsatz“ Amerikas, obwohl Washington seit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 – und damit vor fast 150 Jahren – alles daran gesetzt hat, das einstmals eigenständige Deutschland in genau dieser Rolle zu justieren. Wenn wir dabei nicht zerrieben werden wollen, muss Berlin zu einer Politik für das eigene Land in Verantwortung für gute Nachbarschaft und für globalen Frieden übergehen.

Millionen Bürgerinnen und Bürger gehen in diesen Monaten auf die Straßen und Plätze, um für ihre Freiheitsrechte und das Grundgesetz einzutreten. Die freiheitliche, deutsche Verfassung ist in Gefahr, und diese Gefahr geht von der eigenen Regierung aus. Der demokratische Rechtsstaat war die Hoffnung für das wiedervereinigte Deutschland nach dem 3. Oktober 1990. Was wir jedoch heute erleben, ist ein fortdauernder Verfassungsbruch oder, deutlich gesprochen, einer Herrschaft des Unrechts. Da mutet Wolfgang Schäubles jüngster Vorschlag geradezu grotesk an: Seine „Bürgerräte“ stehen stellvertretend für eine Politik des folgenlosen Schwätzens. Sie sind nur ein weiterer Sargnagel für die parlamentarische Demokratie in unserem Land.

 

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