Mit Einführung der US-amerikanischen Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) wurde 2002 der Weg in sogenannte präemptive Kriege, also Angriffe schon bei gefühlter Bedrohung, als neues militärisches Instrument festgelegt. Die damalige nationale Sicherheitsberaterin des Weißen Hauses, Condoleeza Rice, bezeichnete diese Doktrin als einzigen Weg zur wirksamen Bekämpfung von Terroristen und Tyrannen.2 Den Präsidenten von Belarus, Alexander Lukaschenko, titulierte sie als letzten Diktator Europas. Dazu muss man wissen, dass Lukaschenko 1997 alle Organisationen des Multimilliardärs George Soros in seinem Land hatte schließen lassen.3 So etwas hat irgendwann Konsequenzen. Die Staaten, die sich dem Zugriff des US-Kapitals – vornehmlich über den Umweg der Weltbank und des IWF (beide 1944 auf der Konferenz von Bretton Woods gegründet) – entzogen, wurden regelmäßig zu Diktaturen gestempelt. Auf dem NATO-Gipfel in Riga 2006 sprach Rice Klartext: „Ich denke, es ist ganz klar, dass wir uns tatsächlich in einem globalen Kampf befinden und nicht den Luxus haben, zuhause zu sitzen und zuzulassen, dass die Bedrohung auf uns zukommt. … Wir müssen in der Offensive zurückschlagen.“4
Über 20 Jahre hatte Lukaschenko dem Westen getrotzt
Über 20 Jahre hatte Lukaschenko dem Westen getrotzt und ihn dann auch noch am 19. Juni 2020 mit einer Veröffentlichung herausgefordert. Er schrieb, dass der Westen Belarus 940 Millionen Dollar in Form sogenannter Schnellfinanzierung angeboten habe und betonte gleichzeitig, dass zusätzliche Bedingungen dafür, die sich nicht auf den finanziellen Teil beziehen, für das Land nicht akzeptabel seien. „Wir hören z. B. die Forderungen, unsere Coronavirus-Reaktion nach dem Vorbild Italiens (totaler Lockdown) zu gestalten. Ich möchte nicht, dass sich die italienische Situation in Belarus wiederholt. Wir haben unser eigenes Land und unsere eigene Situation“5, erklärte der Präsident und führte über das Interesse der Weltbank aus: „Sie ist bereit, uns zehnmal mehr zu finanzieren, als sie ursprünglich als Zeichen der Anerkennung für unseren effizienten Kampf gegen dieses Virus angeboten hatte. Die Weltbank hat sogar das Gesundheitsministerium gebeten, die Erfahrungen weiterzugeben. In der Zwischenzeit fordert der IWF weiterhin Quarantänemaßnahmen, Isolation und eine Ausgangssperre von uns. Das ist Unsinn. Wir tanzen nicht nach der Pfeife der anderen.“6
Tanzen vielleicht andere nach der Pfeife des IWF? Deren Exekutivdirektorium gewährte seit Ende März 2020 von COVID-19 betroffenen Mitgliedsländern Finanzhilfe und Schuldendiensterleichterungen. Diese Hilfen wurden vom Catastrophe Containment and Relief Trust, dem Treuhandfonds für Katastropheneindämmung und -hilfe, kurz CCRT, bereitgestellt. Insgesamt stellte der IWF rund ein Viertel seiner Kreditvergabekapazität von einer Billion Dollar den Mitgliedsländern zur Verfügung.7 Die größten Summen erhielten Ägypten (7,9 Mrd.), die Ukraine (5,0 Mrd.), Südafrika (4,3 Mrd.), Nigeria (3,4 Mrd.), Jordanien (1,7 Mrd.) und Pakistan (1,4 Mrd.). Darüber hinaus wurden 28 Ländern über 250 Mio. Dollar Schulden erlassen.
Lukaschenkos Ende indes scheint eingeläutet. Am 10. August 2020, dem Tag nach der Wahl, verkündete die Wahlkommission das vorläufige Endergebnis in Belarus: 80,23 % für Präsident Alexander Lukaschenko, 9,9 % für die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja – eine Übersetzerin ohne jegliche politische Erfahrung –, den Rest teilten sich andere Oppositionsvertreter. Tichanowskaja war nachgerückt, als der eigentliche Kandidat, ihr Ehemann Sergej, ein zwielichtiger Unternehmer und YouTube-Blogger, bei einer Demonstration gegen die Annäherung Belarus‘ an Russland verhaftet wurde. Die offiziellen Zahlen erklärte sie für unglaubwürdig: „Ich werde meinen eigenen Augen glauben: Die Mehrheit war für uns.“8 Als Folge erlebt Weißrussland derzeit die wohl größten Proteste in der jüngsten Geschichte des Landes, und der Westen macht Druck auf Lukaschenko.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat die Europäische Union aufgefordert, die Demonstrationen im Land zu unterstützen. „Die EU muss sich weiterhin für die Hunderttausenden Weißrussen, die friedlich für die Achtung ihrer Rechte, Freiheit und Souveränität protestieren, einsetzen"9, schrieb Macron auf Twitter. Auch Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz verlangte umgehend den Rückzug Lukaschenkos: „Das ist ein schlimmer Diktator“, sagte er auf Bild.de.10 Wegen der Polizeiaktionen gegen Demonstranten berief EU-Ratschef Michel einen Sondergipfel für den 19. August ein.11 Das Ergebnis war das erwartete: Alle 27 Staaten der EU erkannten die Wahl nicht an. Zugleich wurden Sanktionen gegen Weißrussland verhängt. Sie dürften Lukaschenko kaum, dafür aber vornehmlich das Volk treffen.
Ein westlicher, dem Autor persönlich bekannten OSZE-Offizieller und langjähriger Kenner der Situation von Weißrussland schrieb ihm am 12. August 2020, dass er die Ansicht, Belarus sei die „letzte Diktatur Europas“ und ein Polizeistaat, nur sehr eingeschränkt teile und führte auf:
Lukaschenko hatte bereits nach der Wahl die Verlegung von Fallschirmjägern nach Grodno im Westen des Landes angeordnet
Lukaschenko hatte bereits nach der Wahl die Verlegung von Fallschirmjägern nach Grodno im Westen des Landes angeordnet. Er begründete dies mit der angeblich angespannten Sicherheitslage dort. Der weißrussische Präsident hatte behauptet, „NATO-Truppen hielten sich nicht weit von der Grenze entfernt auf.“ Vom Militärbündnis wurde dies jedoch zurückgewiesen.12
Fast zeitgleich trat US-Außenminister Mike Pompeo seine fünftägige Reise nach Tschechien, Slowenien, Polen und Österreich an und lobte vor dem Abflug am 11. August 2020 alle vier Staaten als „große Freunde Amerikas“13. Am folgenden Freitag fand zu Mittag im barocken Schloss Belvedere des Prinzen Eugen von Savoyen das Treffen mit Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) statt. Im anschließenden Interview mit ZIB 2 plauderte der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg über die Ziele der Europäischen Union in den letzten Jahren: Es sei darum gegangen, Weißrussland von Russland zu entfremden und aus der engen Zusammenarbeit mit Moskau herauszubrechen.
Ist Minsk der Schlussstein im NATO-Limes gen Osten, fragt folglich der Sicherheitsexperte Willy Wimmer. Ist das die Zielvorgabe, welche die Europäische Union von einer gedeihlichen Entwicklung in Europa als dem gemeinsamen Kontinent hat? „Verantwortliche Sprecher aus dem Deutschen Bundestag lassen sich offen darüber aus, mit welchem politischen Werkzeugkasten sie sich daran machen werden, die letzte Lücke in dem NATO-Limes gegen Russland zuzumachen“, so Wimmer.14 Offen werde vom „Maidan-Modell“ nach dem Putsch in der Ukraine gesprochen oder das Beispiel „runder Tische“ zum Machtübergang in Minsk favorisiert. Es ist zu befürchten, dass Pompeo mit seiner Visite in Mitteleuropa jene Fakten geschaffen hat, die darauf abzielen, nicht nur Russland aus Europa hinauszudrängen (darunter fällt auch das amerikanisch-polnische Vorgehen gegen „Nord Stream 2“), sondern als weltpolitischen Akteur bedeutungslos werden zu lassen. Willy Wimmer beendet seinen Artikel mit den Worten: „Wenige Tage vor dem Gedenken an den deutschen Angriff auf Polen am 1. September 1939 als Vollendung des Rachediktates von Versailles 1919 sind das üble Perspektiven für Europa.“15
Inzwischen gibt es auch Reaktionen aus Moskau. Am 18. August sagte Außenminister Sergej Lawrow, dass die Wahl in Belarus nicht ideal verlaufen sei, und versuchte, die Situation bei seinem geopolitisch wichtigen Nachbarn zu entspannen. Zugleich warnte Russland vor einer erneuten ausländischen Einmischung in das osteuropäische Land zum eigenen Vorteil. Der Westen wolle Belarus eine Ordnung aufzwingen. „Es geht nicht um Lukaschenko, Menschenrechte und Demokratie. Es geht um Geopolitik. Es geht um die Regeln, die unsere westlichen Partner im täglichen Leben auf unserem Kontinent und in anderen Teilen durchsetzen wollen“, führte Außenminister Lawrow aus und verwies auf die Vergangenheit: „Wir haben diesen Kampf schon gesehen, nach dem Ende der Sowjetunion. Zuletzt natürlich in der Ukraine.“16
Zur momentanen Krise steuert der erfahrene indische Diplomat M. K. Bhadrakumar eine hilfreiche Analyse bei. Er sieht in den laufenden Vorgängen die zunehmende Einmischung der „neuen europäischen“ Nachbarn von Belarus und die Vorbereitung einer Bühne für eine „farbige Revolution“ mit potenziell antirussischer Ausrichtung. Anlässlich des Besuchs des US-Außenministers wurde am 15. August ein Abkommen über die verstärkte Verteidigungszusammenarbeit zwischen den USA und Polen unterzeichnet, das so zu einem Dreh- und Angelpunkt der regionalen Sicherheit gemacht würde. Es bilde die rechtliche Grundlage für die Errichtung amerikanischer Militärstützpunkte in Polen. Bekanntermaßen sollen 12 000 US-Soldaten aus Deutschland abgezogen werden, von denen dann ein Teil in Polen stationiert wird.
Weshalb kommt Belarus geopolitisch so eine Bedeutung zu?
Von den USA zu einem regionalen Schwergewicht emporgehoben, wurde Polen nach Ansicht Bhadrakumars gegen seine östlichen Nachbarn angestachelt und betrachte „Belarus als ein wertvolles Grundstück, das das militärische Gleichgewicht an Russlands Westgrenzen verschieben könnte“17. Als Reaktion wies Moskau darauf hin, dass das jüngste Verteidigungsabkommen zwischen den USA und Polen dazu beitragen würde, „die Offensivfähigkeit der US-Streitkräfte in Polen qualitativ zu stärken“18. Bhadrakumar kommentiert dies so: „Die rechte polnische Regierung freut sich, als das Trojanische Pferd der USA innerhalb der EU aufzutreten.“19
Weshalb kommt Belarus geopolitisch so eine Bedeutung zu? Das Land schnürt den Weg der NATO-Truppen in Richtung baltische Staaten ein. Die sogenannte Suwalki-Lücke zwischen Kaliningrad und Belarus bereitet der NATO Kopfzerbrechen. Denn die Lücke könnte schnell geschlossen werden, wodurch die im Baltikum stationierten, knapp 3500 NATO-Soldaten in der Falle säßen. Mit einem neutralisierten Belarus wäre die NATO einen Schritt weiter. Der indische Diplomat stellt die große Frage, „ob die Kalten Krieger in Washington und die ,Neuen Europäer‘ in Mitteleuropa sich mit etwas weniger zufrieden geben würden als mit einem Regimewechsel in Belarus, der dieses Land in ihre Umlaufbahn bringt“20. Droht nun vielleicht ein Remake von 1939?
Hinweis: Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus dem neuen Buch „Schwarzbuch EU & NATO. Warum die Welt keinen Frieden findet" von Wolfgang Effenberger, das am 6. Oktober 2020 im zeitgeist-Verlag erscheinen wird. In Kürze kann es vorbestellt werden.
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