Die amerikanische Leimrute

Wilsons „Vierzehn Punkte“ im Spiegel des Heute

Von WILLY WIMMER

Der 8. Januar vor hundert Jahren war von schicksalhafter Bedeutung für Deutschland und Österreich-Ungarn. Es war jener Tag, an dem der amerikanische Präsident Wilson seine berüchtigten „Vierzehn Punkte“ für einen möglichen Frieden in Europa im amerikanischen Kongress verkündete. Die Folgen für die Weltgemeinschaft sind bis heute spürbar. Wurden wir – im wahrsten Sinne des Wortes – geleimt? Eine Analyse des Sicherheitsexperten und zeitgeist-Buchautors Willy Wimmer.

Dass die „Vierzehn Punkte“ eine derart große Wirkung unter den europäischen Kriegsparteien entfalteten, vor allem in Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich, war schon verwunderlich. Selbst aus heutiger Distanz, denn die Vereinigten Staaten waren am 6. April 1917, also rund neun neun Monate zuvor, auf Seiten der Alliierten in den Krieg eingetreten – und das, obwohl sie sich bei Kriegsbeginn noch neutral erklärt hatten. Es ist historisch unbestritten, dass die Wahrscheinlichkeit seinerzeit hoch war, die Mittelmächte könnten in dem mörderischen Ringen den Sieg davontragen. Aus amerikanischer Sicht musste das unter allen Umständen verhindert werden.

Dafür gab es zwei gravierende Gründe, und der ehemalige Stratfor-Chef George Friedman hat vor wenigen Jahren einen ausschlaggebenden dritten Aspekt hinzugefügt: Der erste Aspekt war naheliegend, denn bei einem Sieg der Mittelmächte, und damit einer Niederlage Frankreichs und Großbritanniens, wären die gewaltigen Kriegskredite, welche die USA den beiden europäischen Staaten gewährt hatten, nicht zurückgezahlt worden. Das wiederum hätte einen Zusammenbruch der Vereinigten Staaten bedeuten können. Daneben waren die USA im Jahre 1917 „kriegsfähig“ gemacht worden gegenüber den kontinentalen Staaten Österreich-Ungarn sowie dem Deutschen Reich. Anders bei Kriegsausbruch 1914, als noch weite Teile der in den USA lebenden Juden auf der Seite der Mittelmächte standen. Das Sykes-Picot-Abkommen des Jahres 1916 und die darin in Aussicht gestellte Möglichkeit einer „jüdischen Heimstatt im osmanischen Palästina“ hatten das Stimmungsgefüge verändert. Das Deutsche Reich hielt zu seinem Bündnispartner und die jüdische Weltgemeinschaft wusste fortan, wofür es sich einzusetzen lohnte.

Wilsons Vierzehn Punkte sollten ihren Zweck erfüllen, doch anders als es diejenigen erwartet hatten, die keinen Sinn mehr in einer Fortsetzung des Krieges sahen

Erst nach dem Ukraine-Putsch 2014, und damit zeitgleich zum einhundertjährigen Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkrieges, fiel es vielen wie die berühmten Schuppen von den Augen: In Chicago, einem unheilvollen Platz für alle gegen Österreich-Ungarn und das Deutschen Reich geschmiedetem Konzepte seit gut 150 Jahren, machte oben erwähnter Friedman die Entwicklung unter globalstrategischen Aspekten nachvollziehbar. Ein Sieg der Mittelmächte während des Ersten Weltkrieges wäre der strategischen Absicht der Vereinigten Staaten zuwidergelaufen. Diese bestand darin, eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland auf Dauer zu verhindern. Dieses Ziel – und der damit verbundene amerikanische Einfluss auf dem europäischen Kontinent – sollte aufrecht erhalten werden, koste es, was es wolle.

So atmeten weite Teile Europas, die vom hohen Blutzoll eines endlos erscheinenden Krieges betroffen waren, förmlich auf, als der amerikanische Präsident Ziele für einen möglichen Friedensschluss in Europa formulierte. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker zählte ebenso dazu wie der Verzicht auf Gebietsabtretungen und die Handelsfreiheit, auch zur See. Wilsons Vierzehn Punkte sollten ihren Zweck erfüllen, doch anders als es diejenigen erwartet hatten, die keinen Sinn mehr in einer Fortsetzung des Krieges sahen ...

„Deutschland bittet um Frieden nach Wilsons Vierzehn Punkten“: Schlagzeile einer amerikanischen Tageszeitung vom 6. Oktober 1918 (Bild: Archiv zeitgeist)

 

Man muss einen Blick auf das Gesamtbild der damaligen Entwicklung werfen, um ein Verständnis von den Kriegsgründen und -motiven zu erlangen, die zum Teil bis ins Heute wirken. Wer weiß denn noch, dass das kaiserliche Deutschland einen Berufsrevolutionär namens Lenin in Marsch setzte, um Russland als Kriegspartei von innen heraus in die Knie zu zwingen? Aus den Köpfen der meisten verschwand auch, dass aus den Vereinigten Staaten zeitgleich ein anderer russischer Berufsrevolutionär gen Russland in Marsch gesetzt worden war. Welches von den USA für Russland vorgesehene Ziel sollte Trotzki, um den es sich dabei handelte, eigentlich umsetzen? Oder diejenigen wenigen Aufwiegler unter den gut einhunderttausend auf den Frieden hoffenden Menschen, die eine öffentliche Kundgebung in München kurzerhand zum Umsturz nutzten, wenige Tage vor dem Waffenstillstand im November 1918?

Die Hoffnung, die Präsident Wilson wie eine Leimrute ausgelegt hatte, brachte für Deutschland millionenfache Opfer, als man die Waffen schon gestreckt hatte, davon eine gute Million Toter und Millionen Kinder, die auf den Straßen zu Greisen mutierten. Hinter den Vierzehn Punkten des amerikanischen Präsidenten versteckte sich die englische Hungerblockade, die bis in den Sommer 1919 mit dem Ziel über das wehrlose Deutschland verhängt worden war, der „deutschen Rasse“ den Garaus zu machen. So ließ sich jedenfalls nach den vorliegenden Quellen der Gründer der internationalen Pfadfinder-Bewegung, Baden-Powell, öffentlich vernehmen. Es war der aus der Geschichte bekannte Ruf, nach dem „Karthago“ zerstört werden muss. Heute ist dieser Ruf wieder gegenwärtig, diesmal Richtung Moskau. Seinerzeit war es an Perfidie nicht zu überbieten, und auch heute ist das nicht viel anders. Der Commonwealth-Bürger und begnadete Historiker Christopher Clark hat es in seinem wegweisenden Buch über die europäischen Schlafwandler versucht aufzudröseln: Die Verantwortung für die Urkatastrophe des vergangenen Jahrhunderts wurde so geschickt auf alle möglichen Schultern verteilt, dass niemand versucht war, sie dort zu verorten, wo angelsächsische „Hütchen-Spieler“ sie festgemacht hatten: auf den britischen Inseln. Für den Verlauf der europäischen Geschichte seit dem Wiener Kongress des Jahres 1814 musste man den britischen Drahtziehern des Ersten Weltkrieges schon zugestehen, dass sie mit dem diplomatischen Konstrukt, welches zum Ersten Weltkrieg führte, die britische Politik gegen eine beim Wiener Kongress vorgeschlagene europäische Friedensordnung in Form der „Heiligen Allianz“ konsequent zu Ende gedacht hatten.

Sollte uns der klägliche Rest an politischem Anstand hierzulande nicht gebieten, die Staatsräson auch einmal gegenüber unserem großen östlichen Nachbarn zu bemühen anstatt sich erneut vor dessen Grenze in Stellung zu bringen?

Solange musste der amerikanische Militärattaché in Berlin Anfang der Zwanziger-Jahre nicht warten, als er dem seinerzeit in Deutschland fast völlig unbekannten „Herrn Hitler“ finanziell so unter die Arme griff, dass sich der Bekanntheitsgrad mit schrecklichen Folgen für Deutschland und die Welt steigern konnte. Unter anderem mit der Katastrophe von„Stalingrad“ wurde in diesem zielgerichteten Denken der Sinn der ursprünglichen Aufbaufinanzierung Hitlers final deutlich, weil dadurch die Beziehungen zwischen Deutschen und Russen nachhaltig zerstört wurden. Daran muss alleine schon deshalb erinnert werden, weil nicht nur die „sechste Armee“ in dieser Stadt vor 75 Jahren ihr Ende fand. Unsere Nachbarvölker im Osten, die von uns bereits gut 130 Jahre unter dem französischen Kaiser Napoleon verheert worden waren, mussten für die Abwehr des vom nationalsozialistischen Deutschen Reich ausgehenden Angriffs einen unvorstellbaren Blutzoll erbringen. Sie forderten dafür nichts ein. Im Gegenteil, es war die Sowjetunion, welche die Grundlage für die deutsche Wiedervereinigung geschaffen und das Ende des Kalten Krieges ermöglicht hatte. Seither verfolgt der Kreml uns gegenüber eine Politik der erhofften guten Nachbarschaft. Und was tun wir? Es mag die Weisung aus Washington sein, den Russen die kalte Schulter zu zeigen. Aber es ist unsere Regierung, und es sind spezielle Teile der deutschen Gesellschaft, die gegenüber Moskau noch nicht einmal eine Grundlage der europäischen Kulturgeschichte gelten lassen wollen. Danach ist es das mindeste, auch die andere Seite zu hören. Stattdessen wird Russland weisungsgemäß mit persönlichem Boykott und Sanktionen ohne Ende überzogen, selbst ohne Rücksicht darauf, ob die eigene Wirtschaft nachhaltigen Schaden nimmt. Sollte uns der klägliche Rest an politischem Anstand hierzulande nicht vielmehr gebieten, nach der Leidensgeschichte des vergangenen Jahrhunderts die Staatsräson auch einmal gegenüber unserem großen östlichen Nachbarn zu bemühen anstatt sich erneut vor dessen Grenze in Stellung zu bringen?

Die Erinnerung an die Geschehnisse zwischen dem 8. Januar 1918, dem Waffenstillstand am 9. November 1918, der deutschen Unterschrift unter dem Diktat von Versailles am 28. Juni 1919 und den sogenannten „Pariser Vorortverträgen“ für die Hinterlassenschaft der Habsburger Monarchie ab dem 10. September 1918 mit Deutschösterreich, werden die vor uns liegende Zeit bestimmen. Medienproduktionen sind angekündigt und nach allen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte wird versucht werden, dem deutschen Volk die alliierte Siegersicht der Geschichte auch für die Zukunft überzustülpen. Die Vorboten sind schon auszumachen. Dafür garantieren eigentlich schon das politisch-publizistische Umfeld der Produktionsstandorte oder die Sender, die derartige Werke anschließend senden. Wenn man ein Jahresprogramm aller deutschen Rundfunk- und Fernsehanstalten betrachtet, muss es spätestens am 8. Mai 1945 eine geheime Kapitulationsbedingung gegeben haben. Anders ist nicht zu verstehen, wenn tagaus und tagein das Haus Windsor in allen Facetten rauf und runtergenudelt wird. Wer sich in Deutschland ein Bild von Monarchie und Militarismus machen will, muss beim NDR dauerabonniert sein, was die Endlosschleife über das britische Könighaus anbetrifft. Vergeblich hofft man darauf, deutsche Geschichte und Gegenwart mit einem vergleichbaren Sendeplatz ausgestattet zu sehen. Von vergleichbar wohlwollender Berichterstattung mag man noch nicht einmal träumen.

Deutsche Stiftungen fördern jene, die sich der angelsächsischen Weltsicht unterwerfen und damit uns alle als Staatsbürger mit Anrecht auf eine eigene, wahrhaftig erzählte Geschichte in Schach halten

Unter diesen Vorzeichen verwundert es nicht, dass britische Historiker in Deutschland die Deutungshoheit über die jüngere Geschichte unseres Landes und Europas erlangt haben. Man schmückt sich in Deutschland geradezu mit denen, deren wichtige Aufgabe darin zu bestehen scheint, die Sicht der Geschichte derjenigen zu perpetuieren, welche den Rahmen für die Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts wesentlich gezimmert hatten. Allerdings haben die weltpolitischen Auseinandersetzungen in den letzten Jahren eine gravierende Folge für diese Historiendominanz von der Insel: In dem Maße, wie die Spannungen in Europa wieder zunehmen, werden die Archive geöffnet, um größeren Aufschluss über die geschichtlichen Geschehnisse und zeitgleich die aktuelle Einflussnahme zu gewinnen. Vieles spricht dafür, dass eine neue Offenheit für die historischen Abläufe gerade uns Deutsche im Visier hat.

Gibt es auch deutsche Historiker mit jener Wirkung, die angelsächsische Zunftgenossen zweifellos haben? Fehlanzeige wäre das falsche Wort und nicht angebracht. Aber als Zeitzeuge hat man nicht den Eindruck, dass sich prominente Mitglieder der hiesigen historischen Zunft in die Bresche schlagen, wenn es um eine umfassende Beurteilung jener Zeitepoche handelt, die heute noch die Politik bestimmt. Deutsche Stiftungen fördern jene, die sich der angelsächsischen Weltsicht unterwerfen und damit uns alle als Staatsbürger mit Anrecht auf eine eigene, wahrhaftig erzählte Geschichte in Schach halten. Dazu haben deutsche Historiker, die sich konform zu Fritz Fischers These von der deutschen Alleinschuld mit dem Ersten Weltkrieg, seiner Vorgeschichte und den Konsequenzen beschäftigt haben, maßgeblich beigetragen. Bis heute herrscht der Eindruck vor, dass ihre Deutung der jüngeren Geschichte davon bestimmt gewesen ist, zwischen ihrer jeweiligen Rolle in der Herrschaftszeit der NSDAP und den erwartbaren Konsequenzen eine möglichst große Distanz zu legen. Das ist ein Phänomen, das generell in der deutschen Publizistik der Nachkriegsjahre festzustellen ist. Die alliierte Weltsicht fand bei denen die größte publizistische Unterstützung, die hohe und höchste Positionen im NS-Unterdrückungsapparat hatten oder ihre Väter ehedem in solchen Rängen wussten.

Sind der 8. Januar 1918 und die Folgedaten eine Angelegenheit der Vergangenheit, aus dem „politischen Gestern“? Weit gefehlt, wie der Besuch des amerikanischen Präsidenten Trump auf Einladung seines französischen Präsidialkollegen zum 14. Juli 2017 in Paris zeigen sollte. Denn dieser Staatsbesuch fiel aus dem gewohnten Rahmen. Er galt dem Kriegsbeitritt der USA an der Seite Frankreichs und Großbritanniens, um einen damals sich abzeichnenden Sieg Österreich-Ungarns und des kaiserlichen Deutschland zu verhindern. Über die weiteren Motive – Stichwort Kriegskredite – habe ich oben schon gesprochen. Weshalb fiel die Pariser Veranstaltung aus dem Rahmen? Es war in den zurückliegenden Jahrzehnten so etwas wie ein guter europäischer Brauch geworden, über die damaligen Gräben sich durch die Anwesenheit der Repräsentanten der ehemaligen Kriegsgegner die Hände zu reichen. Das war bis dahin in Frankreich so, und das war es auch für Russland. Sichtbar wich der französische Präsident Macron von dieser versöhnlichen Geste ab, auch wenn sie vor dem geschichtlichen Hintergrund mehr als angebracht gewesen wäre. Warum eigentlich? Um wenige Wochen später eine Rede über die Weiterentwicklung Europas der Europäischen Union zu halten? In welchem Geiste eigentlich? Abgesehen von der Frage, ob es nicht an der Zeit sein würde, mit singulären Entscheidungen Schluss zu machen. Mit Entscheidungen, durch die die Grundlage für die Europäische Union in den Augen der Bürgerinnen und Bürger nachhaltig zerstört wird.

Die Vierzehn Punkte Wilsons und die westlichen Erklärungen 1990 kann man unter ein Motto stellen: Es gilt das gebrochene Wort

Ist der 8. Januar 1918 nichtsdestotrotz eine Angelegenheit der Vergangenheit? Eine Kriegslist eben, um die Gegner aufs Glatteis zu führen und sein Ziel auf kürzerem Weg zu erreichen? Sicher, man zog sich rechtzeitig aus den Verhandlungen zum Versailler Diktat zurück und überlies das den Erben Napoleons, der Europa seinerzeit nachhaltig in den Ruin getrieben hatte. Vergessen ist allerdings, dass man die amerikanischen „Kriegsschuldspezialisten“ in Schlüsselpositionen für die Veranstaltung in Versailles zurückließ, um gegen jede historische Wahrheit und Tatsache eine deutsche und österreich-ungarische Alleinschuld an diesem mörderischen Krieg festschreiben zu können. Vor wenigen Jahren hatte Deutschland die daraus aufgezwungenen Verpflichtungen auf Heller und Pfennig zurückgezahlt. Also doch der berühmte Schnee von gestern? Mitnichten, wie das Ende des Kalten Krieges, die Umstände der deutschen Wiedervereinigung mit dem gemeinsamen Verständnis über die fortdauernde Begrenzung der NATO und der heutige Aufmarsch des gesamten Westens gegen Russland erneut zeigen. Die Vierzehn Punkte Wilsons und die westlichen Erklärungen 1990 kann man unter ein Motto stellen: Es gilt das gebrochene Wort. Es wurde in der Zeit nach 1945 wieder und wieder betont, dass der Schlüssel für die Wiedervereinigung und das Ende der europäischen Spaltung in Moskau liege. Moskau hat uns diesen Schlüssel ausgehändigt und damit die Erwartung auf gutnachbarschaftliche Beziehungen und ein „gemeinsames Haus Europa“ verbunden. Die Geschäftsgrundlage war, die NATO nicht über die deutsche Ostgrenze hinaus auszudehnen. Die Erfahrungen, die Deutschland 1918 und in den Folgejahren machen musste, sind die Erfahrungen Russlands nach 1990.

 

LITERATUR