Werte: Beständigkeit – was immer gilt

Von MARTIN VITT

Alles verändert sich. Eine „Binsenweisheit“, die zum Widerspruch einlädt! Gibt es Dinge, die gleich bleiben? Gibt es Tatsachen, die einen bleibenden Charakter haben? Existieren ewige Wahrheiten?

Wenden wir uns an die Philosophie, die Physik und an unsere gemachten Erfahrungen, erhalten wir spannende Antworten. Gedankengänge die einladen, einen Weg einzuschlagen, der Grenzen überschreiten kann.

In der Philosophie führt der Gedanke des ewig Bestehenden zu dem bekannten kausalen Gottesbeweis von Thomas von Aquin („ex ratione causae efficientis“). Dieser geht davon aus, dass alles in dieser Welt Existierende auf eine Ursache zurückzuführen ist. Setzt man nun für jede Ursache wieder eine Ursache voraus, würde dies unendlich in die „Leere“ führen. So postulierte bereits Aristoteles eine erste Ursache, die unverursacht sei und nannte diese „das erste unbewegte Bewegende“ oder einfach den „unbewegten Beweger“. Thomas von Aquin setzte diesen „unbewegten Beweger“ mit Gott gleich, da Gott eben jenes Wesen sei, welches ohne Ursache immer schon da und der Grund für diese Welt sei.

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Auch in der Physik sucht man nach Möglichkeiten, die Welt zu beschreiben und der ewigen Bewegung etwas entgegen zu setzen. Im Energieerhaltungssatz heißt es, dass in einem geschlossenen System die Gesamtenergie mit der Zeit nicht verloren geht. Zwar kann sich die Energie in verschiedene Formen wandeln. So etwa kann aus Bewegungsenergie Wärme entstehen; dennoch kann innerhalb dieses geschlossenen Systems weder Energie erzeugt noch verloren gehen. Es bleibt „beständig“. Doch welche Schlussfolgerungen ergeben sich dabei für den Alltag und haben diese Konsequenzen für unsere Beobachtungen der scheinbaren ewigen Bewegung?

Auch in den Erfahrungen unseres eigenen täglichen Mikrokosmos stellen wir Dinge fest, die einer bleibenden „Wahrheit“ sehr nahe kommen. Eine Beobachtung davon beschreibt die Tatsache, dass jeder Bewegung eine Gegenbewegung folgt. Oder noch allgemeiner ausgedrückt: Jede Veränderung eines Zustandes lässt den entgegengesetzten Zustand alsbald folgen. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen:

Auf einem Spaziergang in der Umgebung eines Gebirgsbaches sehen Sie im Bächlein einen Schatten hinter einem Stein, der einen kleinen Strudel im schnell fließenden Wasser hinterlässt. Sie nähern sich der Stelle und sehen eine Forelle, die ohne Eigenbewegung im Flusse „steht“. Wie ist das möglich, die Strömung hätte dieses graziöse Geschöpf längst mit sich reißen müssen? Die Forelle bemerkt Ihre Anwesenheit; mit einem Flossenschlag verlässt sie den Ort, an der sie ruhig und ohne Mühe verweilte.

„Es ist nichts beständig als die Unbeständigkeit.“ (Immanuel Kant)

Noch während sie darüber nachdenken, setzen Sie sich auf eine nahe gelegene Bank und holen sich Vesper und Getränk heraus, um sich zu stärken. Sie füllen Wasser aus der Flasche in ihren mitgebrachten Becher und beobachten dies, während Sie noch in Gedanken bei der Forelle bleiben. Da bemerken Sie, dass nur Wasser in den Becher gelangt, wenn auch Luft in die Flasche dringt. Die „Gegenbewegung“ schafft den Ausgleich! Ihnen wird klar, dass die Forelle den Gegenstrudel hinter dem Stein nutzte, sich ohne Anstrengung in der Mitte der Abwärts- und Aufwärtsbewegung des fließenden Wassers aufhalten zu können.

Unsere Erfahrung ist immer eine Erfahrung in „Bewegung“. Und trotzdem kennen wir den, nicht exakt und sprachlich korrekt beschriebenen, Zustand der Ruhe. Es ist eine Ruhe, die den Bewegungen in uns und um uns den Charakter der „Zeitlupe“ verleiht, oder jenen Moment, in der sich zwei Pole, zwei Gegensatzbewegungen aufheben.

Die Ruhe ist eine Erfahrung, die Kraft gibt und uns gut tut. Und in der Ruhe wächst dann, oft im Verborgenen, eine Möglichkeit, neue Antworten auf alte Fragen zu finden. Es entwickelt sich eine Kontinuität, eine neue Sichtweise, die in gewisser Weise für eine „Beständigkeit“ in der Tradition der Entstehung von Neuem aus dem Altem steht. Überraschungseffekte sind dabei nicht ausgeschlossen – so manche „Forelle“ entlarvt sich erst bei genauerem Hinsehen als solche, wie die nachfolgende Anekdote eines schlagfertigen Professors zeigt:

Jener händigte die Unterlagen für das Abschlussexamen aus und verursachte einige Verwirrung bei den Studenten. Einer von ihnen sprang auf und rief aufgeregt: „Aber, Herr Professor, das sind ja die gleichen Fragen, die Sie uns bei der letzten Klausur gestellt haben!“„Stimmt“, sagte der, „aber die Antworten haben sich geändert.“

→ Dieser Beitrag bildet den Auftakt unserer neuen Online-Kolumne "Werte".