Im Namen des Volkes?

Von WALTER LEISTEN

Der Autor macht sich Gedanken über den Zustand der Bundesrepublik Deutschland als „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ gemäß Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes und stellt in Abrede, dass die Gewaltenteilung in unserem Lande noch hinreichend gewährleistet sei.

Wie ist die Formel „Im Namen des Volkes“ heute noch zu verstehen, sei es bei der Vereidigung hoher Ämter sowie auch in verfassungsrechtlichen Beschlüssen?

Das Grundprinzip von Recht – und auch Rechtsprechung – geht heute am logischen Verständnis der bürgerlichen Moralwerte leider weitestgehend vorbei. Verzerrt allein schon durch Präzedenzfälle, reduziert sich ein gerichtlicher Prozess oftmals nur noch auf einen parteiinternen Kampf, so denn beispielsweise der Staatsanwalt ein anderes Parteibuch führt als der Verteidiger. Der Angeklagte ist dann eigentlich nur noch als Spielball des Ablaufes zu betrachten und den Vergleichsfällen anderer, ihm nicht zuzurechnender Taten ausgeliefert, ob zu seinen Gunsten oder dawider.

Immer wieder obsiegen lobbyistisch-politische Interessen

Belange öffentlichen Interesses, ausgefochten in hoheitlich autoritären Räumlichkeiten, werden häufig zu einer Farce, da die Entscheidungen vorher längst gefallen sind.

Das war nicht immer so, denn die richterliche Unabhängigkeit sagt laut Grundgesetz Artikel 97 Absatz 1 mit lapidarer Kürze: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.“ Auch ist festgelegt, dass der Richter mit der bloßen Behauptung, er fühle sich durch eine dienstliche Maßnahme in seiner Unabhängigkeit beeinträchtigt, eine gerichtliche Entscheidung darüber herbeiführen kann (§ 26 Abs. 3 des deutschen Richtergesetzes). Die Unabhängigkeit des Richters ist eines der rechtstaatlichen Wesensmerkmale.

Doch was ist daraus geworden?

Immer wieder obsiegen lobbyistisch-politische Interessen. Wie kam es dazu?

Erinnern wir uns: Gedacht waren freigeistige, nur ihrem Gewissen verpflichtete Abgeordnete besten Leumunds, denen im entsprechenden Zeitrahmen die verlassene Position gesichert blieb, und die sie, nach Ablauf dieser ehrenvollen nationalen Aufgabe, wieder einnehmen konnten.

Unbestritten erzielten aus dieser Konstellation heraus auch damals Einzelne oder Gruppen fallweise ihre Vorteile, doch konnte der Klüngel nicht die Ausmaße annehmen, wie er heute, in diesem mittlerweile kultivierten Rahmen, vorzufinden ist. Wo ist noch der Politiker zu finden, dessen Einnahme lediglich aus seinen Diäten besteht, die in ihrer Höhe schon mehr als angemessen sind, da sein zwingend gefordertes Arbeitsvolumen keineswegs größer ist als das eines „normalen“ Angestellten oder Arbeiters? Durch Annahme verschiedenartigster Aufsichtsrats- und Verwaltungsposten ist eine Scheuklappenpolitik die zwangsläufige Folge, seiner Abhängigkeit entsprechend.

Das jetzt sichtbare politische Gebilde ist kein demokratisches mehr, sondern eine zum Spektakel mutierte Staatsform

Nun, das alles ist möglich, da eine unterbindende Funktion außer Kraft gesetzt ist, nämlich die klare Gewaltenteilung von Legislative (Gesetzgebung), Exekutive (Regierung) und Judikative (rechtsprechende Organe).

Die wechselseitige Unabhängigkeit und daraus resultierende Kontrollfunktion wurden stets als Fundament einer gedeihlichen demokratischen Gesellschaft erachtet.

Mittlerweile bestimmt die Exekutive die „Thronbesteigung“ der anderen beiden Organe, welche im Grunde, wie auch die Exekutive, vom Volke gewählt sein sollten. Somit ist das jetzt sichtbare politische Gebilde kein demokratisches mehr, sondern eine zum Spektakel mutierte Staatsform.

Die Legislative wie auch die Judikative gerieten damit in eine Abhängigkeit, der alleinigen Macht der Exekutive untergeordnet – unbeeinflusst von Volkes Wunsch und Meinung.

Gesetzgebung und Rechtsprechung dienen also – ausschließlich? – der Staatsgewalt. Diese protegiert parteigenehme „Erfüllungsgehilfen“ (aus welchen Kreisen, bleibt ein offenes Geheimnis) für die Stimmzettelwahl, die sich dann als vermeintliche Volksvertreter ins Parlament mogeln (vgl. dazu auch den Beitrag „Mehr direkte Demokratie: Ausweg aus zunehmender Politikverdrossenheit und sinkender Wahlbeteiligung?“).

In letzter Konsequenz führt eine solche Parteiendiktatur zu Absolutismus und Despotie. Eine so entstandene Autorität handelt nur nach eigenem Ermessen und entzieht sich in jeder Hinsicht dem Willen des Volkes.

In letzter Konsequenz führt eine solche Parteiendiktatur zu Absolutismus und Despotie

Eine Veränderung eines solchen Staatsgebildes ließe sich nur noch schwerlich herbeiführen, es sei denn, der Souverän beriefe sich folgerichtig auf den Artikel 20 Abs. 4 des Grundgesetzes: Wird die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährdet, „haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“.

Offen bleibt, wie das konkret zu deuten bzw. welche Art von Widerstand erlaubt sei. Eine Frage nur für Staatsrechtler oder an das ganze Volk gerichtet?