Rückblenden, Island (II)

II: Verbindung suchend

Von FRIEDERIKE BECK

Das Leben spielt sich meist in geschlossenen Räumen ab, sehr oft mit Dekorationen aus der Welt der Natur: Gemälden derselben, Blumen, ein paar Steine, Dingen aus Holz ...

In Island ist die lebendige Natur. Und als Randfigur, als Dekoration allenfalls, oder schmückendes Beiwerk, um nach Isländerart ein Fremdwort zu vermeiden, darf sich der Mensch fühlen, falls er das so will.

Zumindest war das mein Eindruck: fast überflüssiges Beiwerk zu sein.

Nach dem zweiten perfekten Regenbogen, der sich in den aufsprühenden Tröpfchennebel über Gullfoss warf, war es um meine Fassung vorläufig geschehen, während der Wasserfall grandios seine Wassermassen unter ohrenbetäubendem Dröhnen die verschiedenen Felsebenen hinabfallen ließ, um sie dann wieder in die weit engerer Form einer Schlucht zu pressen, wobei er fast wie ein Walfisch unablässig seine Atemsäulen aufsteigen ließ.

Natur muss vor allem deswegen allerorten eliminiert werden, um sie als Maßstab zu beseitigen
Man ist es einfach nicht mehr gewöhnt, derart übergangen zu werden. Die Darbietung einer dermaßen geballten Kraftentfaltung, die sich mit einem kaum erträglichen Maß an Schönheit wie selbstverständlich verbindet, war irgendwie kaum auszuhalten – gewissermaßen niederschmetternd; nicht nur im Bereich der tatsächlichen Möglichkeit eines Fehltritts, der unsere flüssigen Anteile in wenigen Augenblicken mit dem Wasserfall verbinden würde, sondern auch als geistige Darbietung gesehen.

Mein Körper oder mein Geist taten daher das altbewährte, naheliegendste, um sich angesichts der unerwarteten Wirkung dieser nicht zu verkraftenden Selbstdarstellung des Lebens momentan etwas Erleichterung zu verschaffen: Ich hörte mich heulen. Die leicht salzigen Tränen konnten dem gewaltigen Süßwasserstrom zum Glück nichts anhaben.

Ich denke, Natur muss vor allem deswegen allerorten eliminiert werden, um sie als Maßstab zu beseitigen: Damit der Mensch sich seiner „grandiosen“ Errungenschaften, der fehlenden Eleganz und kläglichen Plumpheit vieler seiner derzeitigen „Erfindungen“ ungestört erfreuen kann, und die Natur nicht mehr zu ihm darüber spricht.

Gullfoss: Vielleicht ist ja auch der Mensch ursprünglich so gemeint gewesen, jenseits von Steuernummer, Irisscanner und Mikrochip?

Es ist daher so wichtig, an Orten wie diesen, noch korrigiert, berichtigt, erinnert zu werden … erinnert werden zu können.

Meine Betrachtungsweise war wohl typisch für einen modernen Menschen: Innen- und Außenwelt, die scheinbar unüberwindliche Kluft, die das, was vor mir liegt, als getrennt von mir versteht …

Da wissenschaftliche Erkenntnisse ja schon länger alle unsere Wahrnehmungsvorgänge als beinahe hilflosen Orientierungsversuch, als schmalen Ausschnitt der Bewusstwerdung in einem Meer uns nicht zugänglicher Informationen beschreiben, so ist auch dieses Gefühl des Getrenntseins wohl nur eine schlechte Gewohnheit: Denn, was ich in meinem Augeninneren auf der Netzhaut habe, ist auch ein Teil von mir, so sehr, dass der Vorgang der Wahrnehmung in mir sogar Eiweiße verändert, Moleküle umstrukturiert; und es ist gleichzeitig auch außerhalb meiner Netzhaut vorhanden.

Das will sagen, dass es ein Innen und Außen streng genommen nicht gibt; doch mir ist durchaus klar, dass dies hier nur ein etwas kläglicher Versuch ist, mir selbst mit den Tröstungen und Sakramenten vermeintlicher oder tatsächlicher wissenschaftlicher Erkenntnis Linderung zu verschaffen, umso mehr, da wissenschaftliche Erkenntnisse ja eigentlich keine Geheimnisse lüften, sondern die Geheimnisse der Natur nur auf eine andere Ebene verschieben. Denn eigentlich ist Gullfoss ein Aufruf zur Kommunikation, dem ich erst einmal nichts entgegenzusetzen hatte.

Aber trotz allem Unvermögen: Ich sehe etwas, nehme es wahr, weil es mir ähnlich und verwandt ist oder verwandt wird. Denn dieser Vorgang macht nicht nur physiologisch betrachtet das Außen zum Innen.

Was ich in meinem Augeninneren auf der Netzhaut habe, ist auch ein Teil von mir, so sehr, dass der Vorgang der Wahrnehmung in mir sogar Eiweiße verändert
Auf „Goethisch“ heißt das: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt es nie erblicken; / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttliches entzücken?“ (Zahme Xenien III)

Verbindung suchend den Geist bemühen, Dinge mir verwandt machen: Versuch …

Wir fahren mit einem einheimischen Führer auf einen Gletscher, den Langjökull, ein buntgewürfeltes Grüppchen aus einem englischen Gefängnisangestellten, verantwortlich für Schwerverbrecher und Lebenslängliche, einem Radiowerbungverkäufer, einer chinesischen Endokrinologin und mir.

Aus Reykjavik rausfahrend zeigt man uns wieder den Stein an der Schnellstraße (oder sollte ich sagen Autobahn?), den wegzubewegen einige böse Begebenheiten auslöste, weswegen man ihn dann einfach respektierte und statt seiner einfach die Autobahn verschob. Auf der Fahrt zum Gletscher Langjökull geht es durch Geröllfelder. Ein Künstler hat einige dieser Steine in Skulpturen verwandelt. Da gefällt mir doch der Naturstein schon besser, den uns der Führer als Troll vorstellt, eine seiner jüngsten Entdeckungen. Als ich das Gesicht problemlos erkenne, bin ich offenbar qualifiziert, eine längere und ziemlich verzwickte Geschichte über das Geschlecht der Trolle anzuhören, die Unbilden des isländischen Klimawandels im frühen Mittelalter, und die damit verbundene Notwendigkeit der Trolle, sich mit den Menschen geschlechtlich zu vereinigen, da nur so ihr Überleben aufgrund der entstehenden Lebensmittelknappheit garantiert war, weswegen die Trolle nicht mehr in der freien Natur überleben konnten, sondern Anschluss an den Menschen suchen mussten. Das Projekt war erfolgreich, die Trolle überlebten, obzwar etwas verwandelt ...

Während des ausführlichen Tatsachenberichtes schaute ich einmal hilfesuchend in den Rückspiegel, um bei einem aufkommenden Kichern Beistand zu erhalten. Das tut mir heute noch sehr leid. Es erboste den Führer nämlich etwas, und die Erzählung ging umso ernsthafter weiter!

Jedenfalls merkte ich mir doch hoffentlich das Wichtigste: Mit dem Klimawandel sind die Isländer seit alters her vertraut: Sie wissen: Klimawandel ist normal. Klimawandel ist gut, zumindest, wenn das Land nicht wieder in eine Zwischeneiszeit gleitet. Einige Gletscher werden heute weniger, einer wächst weiter.

Die Isländer wissen: Klimawandel ist normal
Isländer sind aufgeschlossen: Sie zeigen sich Genexperimenten gegenüber offen. Ein Teil von ihnen garantierte so das Überleben der Trolle. Mir wurde auch deutlich, dass es in Island durchaus Nachfahren von Riesinnen und Riesen gibt, die ganz unvermittelt, ihre Familienangehörigen um Haupteslängen überragen können. Ich wagte jedoch nicht zu fragen, wie man Nachfahren von Trollen und Elfen erkennt, und erst die verschiedenen Kombinationen derselben. Ich verzagte.

Dabei können Isländer bei Deutschen auf besondere Sympathien derartiger „Trolligkeiten“ rechnen: Nicht nur sind die weltweit bekannten alten Grimmschen Märchen diesbezüglich sehr vielsagend, vor ein paar Jahren noch hob der deutsche Künstler Wolfgang Müller mittels eines Artikels in der Frankfurter Rundschau das Amt einer Elfenbeauftragten, die im Bauamt der Stadt Reykjavik tätig sei, aus der Taufe. Desweiteren ist in Antroposophenkreisen (durch die Waldorfschulbewegung bekannt) die Beseeltheit von Steinen nach Steiner z. B. komplett anerkannt und steht sozusagen auf dem Unterrichtsplan. Die Flensburger Hefte (Antroposophie im Gespräch) berichten in Heft IV/2002 ganz ungeniert „Was die Naturgeister uns sagen: Im Interview direkt befragt“.

In den nächsten Tagen erlebte ich die Invasion der Trolle: Ich sah einfach überall Trolle, Steingeister und andere Elementarwesen und ärgerte mich gehörig, keine eigenes Auto zu haben, um ausgiebig auf Fotopirsch gehen zu können. Doch ich war beglückt!

Hart aber zart: Steintroll am Rande der Route, den unser Führer entdeckte

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

Eins, zwei oder drei? Ein großer, ein kleiner und oben noch einer? Trolle halten den Wasserfall Skógarfoss (Südisland) im Blick

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

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