Edition H1 (Kunstbuch)

Die Globalisierungsfalle am Victoriasee

Klick, klick, klick-klick. Ein Dokumentarfilm, der Nachwirkungen hat, noch Tage später fallen die Groschen, lösen sich Erkenntnisse bzw. werden Kenntnisse ausgelöst. Ein Film, der ganz ruhig Puzzleteilchen zusammensetzt ohne störende Kommentare. Nur in der Auswahl der Szenen, beim Schnitt, macht sich naturgemäß so etwas wie Regie bemerkbar. Der Streifen überlässt dem Zuschauer somit weitgehend das Zusammenfügen vieler dargebotener Puzzleteilchen – auch, wie viele er zusammenlegen möchte und wann. Streckenweise schlechte Bild- und Tonqualität stören im Grunde nicht. Filmort ist Tansania in der Nähe des Victoria-Sees. Worum es geht?

Irgendwann vor 50 Jahren wurde dort von einem Witzbold ein Riesenfisch ausgesetzt, der Nilbarsch. Dieser Fisch hat seitdem mit dem einstigen Artenreichtum des Sees gründlich aufgeräumt. Ca. 400 Fischarten wurden bereits von ihm beseitigt. Diese Verschiebung im ökologischen Gleichgewicht blieb jedoch nicht auf den See beschränkt, sondern zog Kreise wie ein Stein, den irgendjemand ins Wasser geworfen hat.

Mittlerweile etablierte sich rund um den Victoriasee eine von einer indischen Unternehmerschicht getragene Fischindustrie, die diesen teuren, für die Einheimischen unerschwinglichen Fischleckerbissen verarbeitet und exportiert.

Anfangs nimmt man als Zuschauer arglos die Aussagen hin, dass die riesigen Frachtflugzeuge, die in der Nähe des Sees landen, „leer“ anflögen und eigens für den Fisch kämen.

Die Doku wird langsam immer dichter, zeigt das Leben der Einheimischen, führt Gespräche mit Kindern, Frauen, Arbeitern, den Fabrikbesitzern, Prostituierten, das Leben aller wird tatsächlich in vielfältiger Weise und in vielen Aspekten fast vollständig von diesem Monsterfisch dominiert.

Die Fischfabrik produziert täglich hunderte von Tonnen Fischfilet für den Export nach Europa. Der Fisch kann leider nichts gegen die Hungersnot im Lande tun, nur die Fischreste (Köpfe und Gräten) werden an die Afrikaner der Gegend zum Trocknen weitergeliefert. Der Filmbeitrag spricht von einer Million Afrikanern, die sich von diesen Resten ernähren.

Beim Anblick der Bilder, dem Schmutz, den Maden, den ausgemergelten Arbeitern, die barfuß in Schlamm und Fischresten herumwaten, kann einem schlecht werden. Dabei gehören diese Menschen mit Arbeit noch zu den privilegierten. Für viele Waisenkinder bleiben nur Plastikstreifen von Fischverpackungen der Fabrik, die sie einschmelzen und schnüffeln, um ihren Hunger mit den giftigen Dämpfen zu betäuben.

Nach und nach arbeitet der Film sich vor, legt weitere Teilchen zusammen, allmählich rundet sich das Bild ab. Besonders eindrücklich sind die Interviews mit den russisch-ukrainischen Piloten der Frachtmaschinen. Anfangs wirkt alles noch harmlos-leutselig. Ein Geständnis gegen Ende des Filmes bringt es jedoch auf den Punkt: In brüchigem Englisch erklärt er, wie er Weihnachten Waffen nach Afrika lieferte und von Afrika süße Weintrauben für Europa mitbrachte ...

Was tun wir da eigentlich? Weiß noch irgendjemand, was er tut? Jeder bewegt sich in einem kleinen Teilabschnitt des Gesamtbildes und kann leicht den Blick auf das Ganze verweigern oder verleugnen mit Hinweisen auf seine „Pflicht“, das „Business“ etc. – alles nur kleine Fische, allein der Nilbarsch im Victoriasee ist ein Riesenfisch!

Bei mir fiel ein spezieller Groschen einige Tage später. Mir dämmerte plötzlich, was es mit dem angeblichen HI-Virus bzw. der sogenannten Aids-Seuche in Afrika auf sich hat, was wir mit dieser Behauptung den Menschen eigentlich antun:

Mithilfe dieses Virus' wurde eine Art Orwellsches Neusprech kreiert: Was früher korrekt mit Mangelernährung, Hunger, Armut, verschmutztes Trinkwasser, unhygienischen Arbeitsbedingungen, Hungerlöhne bezeichnet wurde, heißt jetzt ganz einfach „Virus“, mithin sind die Menschen dort selbst schuld, dass sie sich „angesteckt“ haben. Die erschütterndsten Bilder des Films zeigten Menschen in völlig abgearbeitetem, unterernährtem Zustand, z. B. die Straßenkinder, denen man etwas von einem „Virus“ eingeredet hat. Eine zusätzliche Last für die einen – Entlastung für die anderen; es war nicht der Hunger, die entwürdigenden Lebensumstände, nein, allein das nicht benutzte Kondom.

Ich fand eine treffende Kundenrezension von „Krisovice“ im Netz:

„Wissen Sie, welche Auswirkungen die Globalisierung hat? Verstehen Sie die globalen Zusammenhänge von Wirtschaft, Armut und Krieg? Im Grunde schon, werden Sie jetzt vielleicht sagen. Das dachte ich auch – bis ich diese eindrucksvolle Dokumentation sah. Anhand eines Beispiels, des Fischfangs und -handels am tansanianischen Viktoriasee, zeigt Regisseur Hubert Sauper uns die Abgründe des modernen Handels und seine Konsequenzen auf. Die Bilder sind schlicht und nicht kommentiert, doch der Inhalt ist brisant. Meiner Meinung nach sollte jeder Bewohner der westlichen Welt diesen Film sehen. Weil er abstrakte Zusammenhänge veranschaulicht. Weil er die Augen öffnet. Und weil wir, wenn wir in den Zeitungen lesen, wir seien ,Profiteure der Globalisierung‘, dies nun in einem anderen Licht sehen. Die beste Doku, die ich bisher gesehen habe.“

Titel: Darwins Alptraum
Originaltitel: Darwin's Nightmare
Jahr: 2004
Land: Frankreich, Österreich, Belgien
Regie: Hubert Sauper
Genre: Dokumentation
Im Netz: www.arsenalfilm.de/darwin/
Vertrieb: Sunfilm

→ Diesen Film auf DVD erwerben


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