Götter in Amnesie

Jochen Kirchhoffs neue Veröffentlichung „Das kosmische Band“ ist einerseits als eigenständiges Werk, andererseits aber auch als eine thematische Einführung in seine im vergangenen Jahrzehnt als Höhepunkt seines Schaffens publizierte Quadrologie zu betrachten. In „Was die Erde will“, „Räume, Dimensionen, Weltmodelle“, „Die Anderswelt“ und „Die Erlösung der Natur“ skizziert er einen metaphysisch begründeten Ansatz zum Verständnis der menschlichen Wesensnatur, der in der gegenwärtigen Philosophie seinesgleichen sucht.

Die Offenheit zur Höherentwicklung, zur Transzendenz, die in der Tiefenstruktur des Menschen begründet ist bei gleichzeitiger Anamnesis, der Rückerinnerung der Seele an ihren Ursprung, unser aller Urgrund, ist sein zentrales Thema – man kann es durchaus kurz fassen: Wir sind alle Götter in Amnesie.

Hat die Philosophie die Vertikale, die nach oben, zu etwas höherem ausgerichteten Dimension, dem Sein, verloren und ist in der Horizontalen, der Dimension der Erfahrung des Seienden, verblieben? Heidegger sagte 1946, das der Mensch vor lauter Seienden das Sein nicht mehr sieht und der heutigen menschlichen Existenz jeder Zugang zu dieser Erfahrung verloren gegangen ist... und wie viel mehr gilt das seit Jahrzehnten für unsere westliche Welt und der sich früher unvorstellbar eindringenden Zahl von Ablenkungen, Beschäftigungen (zumeist unnötigen technischen Beschäftigungen) ...

Die fortschreitende, exponentiell sich in den vergangenen Jahrzehnten zeitigende Dezentrierung des Menschen ist ein Thema des „Kosmischen Bandes.“ Sie ist im Spiel, wenn Heidegger behauptet, die bisherige Metaphysik habe „nicht hoch genug“ vom Menschen gedacht. Zu niedrig denkt man ihm zufolge, wenn man den Menschen als ein Tier mit einem Zusatz an Vernunft vorstellt, wie es der darwinistischen Sichtweise entsprechen würde. Hoch genug setzt man an, wenn man den Menschen als den Da-Seienden bedenkt, das heißt als das Wesen, das in der Lichtung des Seins steht oder die Lichtung selbst ist (Peter Sloterdijk/Hans-Jürgen Heinrichs: „Die Sonne und der Tod“, Suhrkamp 2001, S.104).

Oder wird es so sein, „wie der irdische Erwachte sich nach orthodoxer Lehre an die Serie seiner früheren Existenzen erinnert, so bewahrt der Hegelsche Geist die Erinnerung an seinen eigenen Prozess, der Weltgeschichte heißt. In beiden Fällen würde der Mensch, der am Ende ist, zum Lehrer – aber zum Lehrer einer seltsamen Art. Er könnte nämlich gar nichts anderes mehr tun, als auf die anderen zu warten. Das Posthistoire wäre das Warten der Erleuchteten auf die in der Geschichte Zurückgebliebenen. Seltsam ist die Stellung dieser Lehrer deswegen, weil sie auf ihre Schüler warten müssen, ohne wirklich etwas für sie tun zu können – so wie die Toten auf die Lebenden warten oder die Entspannten auf die Verkrampften.“ (Sloterdijk/Heinrichs: „Die Sonne und der Tod“, S. 43)

Und könnte es sein, dass es sogar in unserer heutigen Zeit gar nicht so sehr auf den Menschen ankommt, sondern auf etwas, das über ihn hinausgeht und wofür er nur Medium oder Resonanzboden sein kann? Könnte es sein, wie Heidegger ebenfalls im Jahr 1946 sagte, „dass nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen der (menschlichen) Ek-sistenz“?

Kirchhoff nun meint es ernst, fast verzweifelt ernst, manchmal an der Grenze zum Zynismus, das eigenverliebt wirkende Tänzelnde der Sloterdijkschen Essays ist ihm fremd. Ich sehe ihn zusammen mit dem politisch engagierten Tiefenökologen, Logiker und ausgewiesenen Hölderlin-Exegeten (ja , es gibt noch lebende Generalisten und Universalgelehrte ...) Prof. Johannes Heinrichs als den bedeutendsten Denker des deutschen Sprachraums. Auch Ioniker dürfen sich zu weit hinauswagen, ja sind gerade dazu wie beauftragt, dieses zu tun.

Kirchhoff wehrt sich gegen eine Verwissenschaftlichung des Metaphysischen, Geistigen, im schroffem Gegensatz zu all den Veröffentlichungen nicht nur der Esoterikszene, sondern auch – in erschreckendem Maße – der so genannten geisteswissenschaftlichen Literatur der letzten zwei Jahrzehnte, die vermeintlich neue Erkenntnisse fast ausnahmslos neurophysiologisch zu begründen versucht. So wird – selbst von fachlich ausgewiesenen Autoren – immer wieder auf die Bedeutung quantenphysikalischer Theoreme für die Erkenntnisse der modernen Gehirnforschung zurückgegriffen ohne jemals zu erwähnen, das selbst gebildete  Physiker unumwunden zugeben, die Welt der Quanten überhaupt nicht begrifflich fassen zu können – und ein Autor übernimmt diese unsinnigen Behauptungen vom Anderen. Dazu Kirchhoff : „Wirklichkeitsverlust und dogmatischer Agnostizismus, religiöser und wissenschaftlicher Fundamentalismus, kosmische Verlorenheit und Orientierungslosigkeit, megatechnischer Wahn auf der Folie menschlicher Verwahrlosung, beispielloser Verblödung und sinnloser Lebensführung, Gier und Größenwahn ... Genug – alles, was hier angedeutet wurde, gehört zur Lage. ... Viele Menschen, die den Religionen, der Spiritualität überhaupt gegenüber sich als Skeptiker geben, glauben sich bei den Naturwissenschaften auf sicherem Boden. Diesen sicheren Boden gibt es jedoch nur auf einem vergleichsweise schmalen Areal der Naturwissenschaften. Der überwiegende Teil der modernen Naturwissenschaft ist hochspekulativ und hängt über einem gähnenden Abgrund, den nur die mathematischen Schemen und die über die Bildschirme flimmernden Computersimulationen notdürftig kaschieren. Die Wirklichkeit im tiefsten und eigentlichen Wortsinn ist darin längst verdampft.“

Die Tiefenstruktur der Wirklichkeit sieht Kirchhoff als Verfasser der Rowohlt-Monographien über Schelling, Giordano Bruno und Kepler in Anlehnung an Bruno wie folgt: „Wenn es eine Sonne gibt und einen zusammenhängenden Spiegel, dann kann man die eine Sonne in jenem ganzen Spiegel betrachten. Wenn es nun aber geschieht, dass jener Spiegel zerschlagen wird und in unzählige Teile zersplittert, so repräsentiert doch jeder Teil das Ganze, und wir sehen in jedem Splitter das ganze, ungeteilte Bild der Sonne. In dieser Splittern aber wird wegen ihrer Kleinheit und weil sie in Unordnung geraten sind und sich vermischt haben, fast nichts mehr von der universellen Form erscheinen, die aber dennoch in ihnen enthalten ist, allerdings auf eine unentfaltete (und verborgene) Weise.“

Kommen nun diese Myriaden von vormals getrennten Spiegelmonaden wieder zusammen, so kann die Vision des am Ende der „Anderswelt“ zitierten Novalis zur Erfüllung kommen: „Dann werden die Gestirne die Erde wieder besuchen, der sie gram geworden waren in jenen Zeiten der Verfinsterung; dann legt die Sonne ihren strengen Zepter nieder und wird wieder Stern unter Sternen, und alle Geschlechter der Welt kommen dann nach langer Trennung wieder zusammen.“

Wer wagt heute noch einen derartig überwältigen Schlussakkord zu setzen wie Kirchhoff im Anschluss: „Wenn die Sonne ,wieder Stern unter Sternen‘ wird, heißt das nichts Geringeres, als dass die kosmische Fülle unausgesetzt hereinfluten kann, weil die Überhelle des Tageslichts, die das Sternenlicht überstrahlt, zurückgenommen wird. Die Nacht gewinnt an Kraft auch am Tage; Sirius und Aldebaran und Antares (und viele andere ,Sterne‘) strahlen wie andere Sonnen am Himmel, sie rücken ganz nah heran, funkeln in rätselhaften und bis dato unmöglich gehaltenen Klangfarben. Das nun enorm gesteigerte Bewusstsein holt das Ferne in die Nähe wie eine gewaltige Linse, und erschütternd wird deutlich, dass Ferne und Trennung immer ein Wahn waren ...“

Dem ist nichts hinzuzufügen ...

Titel: Das kosmische Band
Untertitel: Der Mensch und seine Bedeutung für das Ganze
Autor: Jochen Kirchhoff
Jahr: 2010
Verlag:
Drachen Verlag
Genre: Sachbuch
Aufmachung:
150 Seiten, broschiert

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