Eigentlich würde ich mich lieber mit Huflattich, Gänseblümchen und Wiesenschaumkraut unterhalten, aber mir brennt – ausgelöst durch ein Buch und eine Fernsehsendung – augenblicklich ein recht düsteres Problem unter den Nägeln: das Thema Organtransplantation. Politiker appellieren an unseren Bürgersinn, Kirchen, die so sensibel reagieren, wenn es um menschliche Embryos geht, fordern im Namen der Nächstenliebe zur Organspende auf, die in der Regel darauf hinausläuft, dass ein menschlicher Körper wie Schlachtvieh ausgeweidet wird.
Wir alle kennen das Märchen von den Sterntalern. Ein kleines Mädchen, das nichts mehr besitzt als das Hemd, das es auf dem Leib trägt, gibt dieses auch noch hin, als es darum gebeten wird. Ein heiligmäßiger, fast schon unerträglicher Akt der Selbstlosigkeit. Nun ist es immerhin „nur“ ein Kleidungsstück, um das es in dieser rührenden Geschichte geht. Wie, wenn man das Mädchen um ein Stück seines Fleisches gebeten hätte?
Unsinn, denken Sie, niemand würde eine solch extreme Forderung stellen.
Wie aber, ganz konkret gefragt, wenn unserer kleinen Heldin ein Verkehrsunfall zugestoßen wäre? Wenn es nicht mehr um ein Stück Stoff ginge, sondern um Herz, Niere, Leber?
Machen wir uns nichts vor: Ein Organ kann nur verpflanzt werden, wenn es von einem lebenden Menschen kommt. Hier liegt die erste große Problematik. Ein beinahe Toter muss getötet werden, damit man an seine Organe kommt. „Dein Tod, mein Leben“ heißt denn auch das Buch, das mich dazu gebracht hat, über die Fragwürdigkeit einer Organtransplantation nachzudenken - und zutiefst zu erschrecken. Die Natur selbst zeigt uns, dass hier eine Grenze überschritten wird, die nicht überschritten werden sollte. Wer mit einem fremden Organ lebt, kann dies nur, wenn er sein ganzes restliches Dasein stärkste Medikamente nimmt, die eine Abstoßung des „Fremdkörpers“ verhindern. Der eigene Organismus sagt nein zu dieser widernatürlichen Prozedur.
Da aber schnellen allenthalben die moralischen Zeigefinger in die Höhe: Kannst du es verantworten, dass ein Mensch stirbt, weil dir das Opfer zu groß ist, heißt es da – und man wird ganz klein mit Hut und kommt sich miserabel vor und kann unmöglich nein sagen, obwohl da eine Stimme in dir ist, die allen Moralappellen zum Trotz einfach „dagegen“ ist, ohne Begründung, aber aus tiefster Tiefe - dort, wo der „heimliche innere Lenker“ sitzt, wie in alten indischen Veden diese Stimme genannt wird.
Einmal anders herum gefragt: Habe ich kleines Menschlein ein Recht, dem großen Schicksalsrad in die Speichen zu greifen? Ist es nicht Selbstüberheblichkeit zu glauben, wir seien die Herren über Leben und Tod, wir hätten das Recht, einen Menschen zu zerschneiden, um einem anderen den Tod zu ersparen, der nun einmal das natürliche Ende dieses Erdendaseins bleibt. Kann ich abschätzen, wie lebenswert solch ein geliehenes Leben wirklich noch ist?
Hüten wir uns, im menschlichen Herzen nur noch ein Stück Fleisch zu sehen, das keine Seele mehr hat. Die haben wir nämlich allem Anschein nach ganz vergessen.
Titel: | Dein Tod, mein Leben |
Untertitel: | Warum wir Organspenden richtig finden und trotzdem davor zurückschrecken |
Autor: | Vera Kalitzkus |
Jahr: | 2009 |
Verlag: |
Suhrkamp Verlag |
Genre: | Sachbuch |
Aufmachung: |
244 Seiten, broschiert |