„Sie kommen aus ihren Löchern wie Ratten, die Blicke voll Elend und Hilflosigkeit. Da klettert die Angst über eure Krawatten, bis ihr nach Schutz und Sicherheit schreit.“ Die Sprache der Lieder von Heinz Ratz ist hart und ungeschönt, sein Sound rau und minimalistisch. Aber hart ist schließlich auch die Sache um die es geht: die nackte, erbarmungslose Not inmitten unserer Glitzerstädte. Zwischen dem (berechtigten) Einsatz für die Ärmsten in Afrika und die (ebenso berechtigte) Klage über Hartz-IV-Schikanen bleibt für die Obdachlosigkeit in Deutschland nur wenig Aufmerksamkeit übrig. Wohnungslose verschwinden quasi in einem Aufmerksamkeitsloch. Heinz Ratz will mit seinem „Lauf gegen die Kälte“ den Fokus wieder auf Menschen lenken, die – mitten unter uns – in einem solchen sozialen und psychischen Elend leben müssen, dass eine kleine Wohnung, ein Bett und Aldi-Kost ihnen als unerschwinglicher Luxus erscheinen dürfte.
Mit seiner Aktion verfolgt Heinz Ratz mindestens dreierlei Ziele: Zunächst will er konkret etwas für die Obdachlosen bewirken: Geld sammeln, um die allfälligen Sozialkürzungen teilweise aufzufangen, einen Fond schaffen, um wenigstens eine medizinische Basisversorgung zu gewährleisten. Zweites Ziel seiner Aktion ist, „dass eine Diskussion entsteht, die sonst nicht entstanden wäre.“ Schließlich möchte Heinz das schlafende soziale Bewusstsein vieler Menschen aufwecken, Leuten Mut machen, die spüren, dass etwas nicht stimmt in unserer Gesellschaft. Möglichst viele sollen denken: „Der macht was. Warum mach ich nichts?“
Die Diskrepanz von Reden und Handeln ist es, was Heinz Ratz bei seinen Kontakten mit Politikern im Vorfeld seines „Laufs“ immer wieder bestürzt. So habe er die Bürgermeister aller Städte, die er auf seiner musikalischen Deutschland-Wanderung durchläuft, gebeten, die Aktion mit einer kleinen Summe Geldes zu unterstützen – nicht um persönlichen Gewinn zu machen, sondern damit das gesamte gesammelte Geld den Obdachlosen zugute kommen könne. Schließlich tue der Bürgermeister damit nur seinen Job.. Aufgabe von Politikern, so Ratz, sei es vor allem, „für die Wehrlosen da zu sein“.. Das sahen die meisten der „Volksvertreter“ anders und verweigerten den vergleichsweise geringen Zuschuss – Sonntagspredigten über die leider Gottes überall im Land wachsende Armut hin oder her.
Heinz Ratz startet seine Aktion vor dem Hintergrund persönlicher Betroffenheit. Schon als Kind hatte er die Bekanntschaft schmerzlicher, existenzieller Armut gemacht, als er mit seiner Mutter, einer gebürtigen Peruanerin, in Lima lebte. Als Kind relativ wohlhabender Eltern hatte er beim Anblick der im Elend hausenden Slumbewohner des Landes oft das Gefühl, „auf der falschen Seite zu stehen“. Die Scham des Reichtums inmitten von Armut, ein heute fast ausgestorbenes Gefühl, wurde bei Heinz Ratz schon sehr früh aktiviert. Es war dies die Geburt eines empfindlichen sozialen Gewissens, dessen Folgen in der diesjährigen Aktion „Lauf gegen die Kälte“ sichtbar werden.
Was ihn besonders glaubwürdig macht: Heinz Ratz lebte ein Jahr lang selbst als Obdachloser. 1992 – er war damals 24 – geriet Ratz in eine schwere persönliche Krise. Nach einer unglücklichen Beziehung mit einem drogensüchtigen Mädchen, konnte er nach deren Auszug die Wohnung nicht mehr allein halten. Niemand wollte die Texte des begabten Lyrikers, Erzählers und Sängers kaufen. So verlor er vorübergehend den Mut, „etwas aus sich zu machen“ und rutschte ab. Als Obdachloser, berichtet Ratz, ist man äußerlich zunächst vor allem auf Probleme des Überlebens reduziert. Wo schlafe ich heute Nacht? Wie schütze ich mich vor Kälte und wie gehe ich mit dem täglichen Hunger um – Probleme, die in unserer gesättigten Gesellschaft kaum mehr einer kennt.
Zu den lebenspraktischen Problemen kommt immer auch der seelische Absturz. Man fühlt sich ins Abseits manövriert. Es fehlt oft die Motivation, etwas für sich selbst zu tun. Fehlende Selbstliebe, verstärkt durch fehlende Zuwendung von außen, treibt einen immer tiefer in eine Spirale der Aussichtslosigkeit.. Hinzu kommt die Unbarmherzigkeit der nicht betroffenen Menschen. „Normalerweise wird man gar nicht angesehen, im besten Fall bekommt man Mitleid“, erzählt Heinz Ratz. Das Gefühl, ausgegrenzt zu sein, nicht dazuzugehören, schmerzt unaufhörlich.
Der heute im kleinen Kreis durchaus erfolgreiche Liedermacher betrachtet im Nachhinein paradoxerweise eine Nierenentzündung als seine Rettung. Geplagt von Schmerzen, die mangels ärztlicher Versorgung nicht therapiert werden konnten, musste er sich die Frage stellen: „Fange ich mich oder rutsche ich ganz ab?“ Heinz Ratz hatte das Gefühl, seine künstlerische Begabung nutzen zu müssen, um anderen mitzuteilen, was er erlebt hatte. Diese Motivation half mit, dass er sich wieder fangen konnte.
Das Gerede der Politiker über „Eigenverantwortung“ hält Heinz Ratz für einen „dummen Spruch“. In den meisten Fällen stehen hinter Obdachlosigkeit tragische Schicksale. Es gibt Situationen, sagt er, „wo ein Mensch nicht mehr die Kraft hat“.. Einer seiner Leidensgenossen, berichtet der Liedermacher, habe aus Versehen seine eigenen Kinder totgefahren. Daran sei er zerbrochen. Ein anderer habe eine leidvolle Trennung von einer großen Liebe erlebt. Ein Dritter habe nach einem Gefängnisaufenthalt nicht mehr in ein bürgerliches Leben zurückgefunden. Was Menschen nach solchen Erfahrungen am dringendsten bräuchten, sei Verständnis und Achtung, sagt Ratz. Wenn jemand einem Obdachlosen eigene Schuld oder mangelnde Leistungsbereitschaft unterstelle, sei dies entweder „knallhartes politisches Kalkül“ oder schlicht „Unverständnis“.
Heinz Ratz sieht persönliche Schicksale in einem Zusammenhang mit der zunehmenden sozialen Kälte und Verhärtung in unserer Gesellschaft. In Halle soll etwa aus Geldmangel ein Heim für missbrauchte und misshandelte Kinder zugemacht, die Betroffenen in Ihre „Familien“ zurückgeschickt werden, erzählt er. Solche Auswüchse trügen im Zusammenhang mit der Hetze gegen sozial Schwache in den Medien und der zunehmenden Entpolitisierung und Gleichgültigkeit der noch Gutwilligen zur Eskalation der Situation bei. Heinz Ratz’ größte Sorge: „Kaum einer mehr traut sich, politisch Stellung zu nehmen, zu sagen, dass er mit etwas nicht einverstanden ist.“
Heinz Ratz’ leidvolle persönliche Erfahrungen haben auch auf sein künstlerisches Schaffen abgefärbt. Man kann seine schonungslosen Verse über die schlafende Armut und die Überheblichkeit der Reichen düster nennen – oder einfach nur realistisch: „Wer Geld hat, greift nach höheren Rechten und feiert sich selber voll Leidenschaft. Aber hört ihr den Ruf aus den dreckigen Nächten? Auch die schlafende Armut, auch die Armut hat Kraft.“
Beim „Lauf gegen die Kälte“ sind Mitläufer, Spenden und andere Formen der Unterstützung ausdrücklich erwünscht. Heinz Ratz wünscht sich die „längste Demo der Republik“. Die Stationen der Tour, weitere Informationen und Kontakt zu Heinz Ratz unter www.laufgegendiekaelte.de.