Von FRIEDERIKE BECK
Zbigniew Brzezinski, der Altmeister der globalen Geostrategie, US-Politiker, Geschichtsprofessor und Autor diverser einschlägiger Bücher, schrieb stets stocknüchtern und ist genau aus diesem Grund auch geeignet, uns Deutschen Gewissheit darüber zu geben, wo wir stehen auf dem „Großen Schachbrett“. 1998 sagte er in seinem gleichnamigen Buch: „Für Amerika ist der geopolitische Hauptgewinn Eurasien … Jetzt hat eine nicht-eurasische Macht die Vorherrschaft in Eurasien – und Amerikas weltweite Vorherrschaft ist direkt abhängig davon, wie lang und wie effektiv es seine Vormachtstellung auf dem eurasischen Kontinent aufrechterhalten kann.“
Und in „The Choice: Global Domination or Global Leadership” (2004): „Um es in Begriffe zu fassen, die auf das brutalere Zeitalter antiker Imperien zurückgehen: Die drei großen Imperative imperialer Geostrategie sind, geheime Absprachen unter den Vasallen zu verhindern, ihre Sicherheitsabhängigkeit aufrechtzuerhalten, Tributpflichtige nachgiebig und beschützt zu halten und die Barbaren davon abzuhalten, sich zusammenzutun.” Und weiter: „Fortan müssen die Vereinigten Staaten festlegen, wie sie mit regionalen Koalitionen umgehen wollen, die danach trachten, Amerika aus Eurasien hinauszuwerfen und damit Amerikas Status als Weltmacht bedrohen.”
Jakob Kaiser schwebte die „Blockfreiheit“ Deutschlands vor
Ganz Ähnliches ließ 1992 ein geheimes Pentagon-Papier verlauten, das unter Leitung des damaligen US-Verteidigungsministers Dick Cheney sowie den Pentagon-Mitarbeitern Lewis Libby, Paul Wolfowitz und Zalmay Khalilzad und in Zusammenarbeit mit dem National Security Council 1992 verfasst und der New York Times zugespielt worden war. Die Vereinigten Staaten seien die Macht, welche die Weltordnung aufrecht erhalte; um diese Rolle weiter spielen zu können, „müssen sie ausreichend auf die Interessen der entwickelten Industrienationen gefasst sein, um sie davon abzuhalten, unsere Führung infrage zu stellen und danach zu trachten, die etablierte politische und wirtschaftliche Ordnung umzustoßen“. Und: „In Europa bleibt eine wirksame amerikanische Präsenz und eine fortgeführte Zusammenarbeit innerhalb der westlichen Allianz vital, aber um zu vermeiden, dass sich eine Beziehung des Wettstreits entwickelt, müssen wir danach trachten, das Aufkommen einer ausschließlich europäischen Sicherheitsregelung zu verhindern, welche die NATO unterminieren würde.“1
Wenn wir darüber nachdenken, wo der Platz und die Rolle Deutschlands in diesem geostrategischen Szenario sind, kommt man nicht umhin, die Situation nach den zwei Weltkriegen zu rekapitulieren: In beiden hatten die USA die Möglichkeit gesucht und gefunden, in Europa einzugreifen. Deutschland wurde im Zweiten Weltkrieg faktisch als Speerspitze gegen Russland bzw. die Sowjetunion benutzt, was den „geopolitischen Hauptgewinn“ der USA nach sich zog, um nach dem Krieg binnen kurzer Zeit erneut gegen Russland bzw. den Ostblock an vorderster Front in Stellung gebracht zu werden.
Das Ausmaß der Niederlage Deutschlands und die Spaltung und Eingliederung des verbliebenen deutschen Territoriums in den jeweiligen Machtblock der USA bzw. der UdSSR ließen damalige Überlegungen, zu einer eigenen Rolle zu finden, an den machtpolitischen Realitäten scheitern.
Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Brücke-Konzeption von Jakob Kaiser (Widerstandskämpfer und stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU in den 1950er-Jahren), der den Gegenpol zu Konrad Adenauer und seiner Politik der strikten Westbindung bildete: Kaiser wünschte sich, Deutschland könne sich geographisch aber auch ideologisch als eine Brücke zwischen Ost und West etablieren und sich damit einen „neuen Existenzgrund“, eine neue „Staatsräson“ schaffen, denn Kaiser schwebte die „Blockfreiheit“ Deutschlands vor. Wie Kurt Schumacher, den Nachkriegsvorsitzenden der SPD, trieb ihn die drohende Teilung Deutschlands um, die beide nicht verhindern konnten. Schumacher sagte damals: „Europa ist am besten mit Russland möglich, aber Europa und Russland sind nicht russisch möglich.” Hier kam der Antikommunismus Schumachers zum Tragen.
Aus der Rückschau sieht man die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen überdeutlich, das sollte jedoch heute nicht davon abhalten, derartige Ideen erneut auf den Prüfstand zu stellen, da die Sicht zumindest nicht mehr ideologisch verstellt ist. Jedoch sind die Hindernisse für deutsche Überlegungen in dieser Richtung heute in gewisser Weise immer noch dieselben wie nach 1945, ja die Hürden sind in bestimmter Hinsicht sogar noch höher geworden: Solche Ideen überhaupt diskutieren zu wollen, kommt einem Sakrileg gleich, da die derzeitige Ordnung von den deutschen durchweg atlantisch geprägten Politeliten unseres Landes bzw. ihren Meistern als „unwiderruflich“ definiert ist:
Unwiderruflich sei der Beitritt Deutschlands zu den Gemeinschaften der europäischen und nordatlantischen Demokratien, zur NATO und zur Europäischen Gemeinschaft, die Westbindung ersetze unwiderruflich jedes Bestreben nach einem durch die Geschichte widerlegten, gefährlichen eigenen „Sonderweg“. (Die Irrweg-Theorie unterschlägt damit auch bewusst eigene demokratische Erfahrungen der jüngeren deutschen Geschichte, wie etwa die im Vergleich sehr fortschrittlichen Reichsverfassung von 1871 oder die sehr liberale Weimarer Reichsverfassung.)
Unsere politischen Eliten sind seit Ende des Zweiten Weltkriegs transatlantisch geprägt. Autochthone Eliten sind so gut wie inexistent
Wenn wir darüber reden möchten, ob Deutschland in seinen seit der Wiedervereinigung erweiterten Spielräumen und Möglichkeiten, mit seiner Lage im Herzen Europas, mit seiner wirtschaftlichen Macht als Lokomotive Europas und als eine der größten Volkswirtschaften der Welt sich nicht doch auf seine Brückenfunktion zwischen Ost und West besinnen oder mehr Europa mit Russland wagen könnte, werden wir leicht in einem Selbstgespräch enden.
Wir werden vordergründig daran scheitern, dass wir, wie Wolfgang Schäuble auf dem European Banking Congress in Frankfurt a. M. am 18.11.2011 unverhohlen sagte, „seit dem 8. Mai 45 zu keinem Zeitpunkt mehr voll souverän gewesen“ sind. Sodann aber auch daran, relevante Gesprächspartner zu finden. Denn unsere politischen (und anderweitigen) Eliten sind seit Ende des Zweiten Weltkriegs transatlantisch geprägt. Autochthone Eliten sind, in Schlüsselpositionen jedenfalls, so gut wie inexistent.
Über die Bedeutung der Eliten
Der kanadische Soziologieprofessor James Petras äußerte sich dezidiert zum Thema „Empire Building“ und arbeitete hierfür einige charakteristische Kriterien heraus (vgl. „Networks of Empire and Realignments of World Power”). „Empire Building” ist bei ihm definiert als „Penetration“ eines Landes oder einer Region. Petras weist auf die Bedeutung von kollaborierenden Eliten und Netzwerken hin, welch in imperialen Staaten „wirtschaftliche, militärische und politische Aktivitäten zu einem kohärenten, sich gegenseitig verstärkenden System verbinden“. Diese seien notwendig, um diese Staaten zusammenzuhalten. Beim Prozess der effizienten „Penetration“ spiele die Errichtung von Herrschaftsnetzwerken durch lokale „Collaborators“ eine zentrale Rolle:
„Die Geschichte hat gezeigt, dass die geringsten Kosten bei der Aufrechterhaltung von langfristiger, umfassend angelegter imperialer Herrschaft („Imperial Domination“) durch die Förderung von lokalen Kollaborateuren entstehen, egal ob in der Form von politischen, wirtschaftlichen und/oder militärischen Führern, welche von den Klientel-Regimes aus operieren.“
Nach 1945 bildete freilich Westdeutschland eine erfolgreiche Blaupause bzw. den Prototyp für die Errichtung eines Klientelregimes mit kollaborierenden Eliten. (Dies sei einfach nur als nüchterne Feststellung, nicht als Wertung oder gar Verurteilung aufgefasst.)
Belastete Eliten, deren Wissen man benötigte, wurden an den Nürnberger Prozessen vorbeigeschleust und in entsprechenden Positionen installiert
Dabei kann die sogar schon vor Kriegsende einsetzende Elitenpolitik seitens der westlichen Alliierten (vor allem der USA, aber auch im geringeren Maß Großbritanniens) in verschiedene Abschnitte aufgeteilt werden. Die damaligen deutschen Eliten wurden zunächst unter dem Aspekt der späteren Nützlichkeit eingeteilt:
Im zweiten Schritt ging man zur Eliten-Neubildung über mittels Bildungskontrolle nach Inhalt und Personal, der Schaffung neuer Lehrstühle an den Universitäten und vielfältigster transatlantischer Programme. Die anfängliche Umerziehung bzw. „Reeducation“ mutierte in Deutschland mit Blick auf die neuen weltpolitischen Aufgaben im beginnenden Kalten Krieg bald zur „Reorientation“ und schließlich zur „Cultural Diplomacy“.
Die Elitenpolitik der USA im Nachkriegsdeutschland stellt bis heute die Weichen. Sie kann als eine „abschließende Kriegshandlung“ (vgl. Stefan Scheil: „Transatlantische Wechselwirkungen: Der Elitenwechsel in Deutschland nach 1945“) und Siegessicherung verstanden werden und deutlicher Ausdruck der neuen Machtverhältnisse.
Ab 1947 wurde ein bis dato historisch beispielloses Experiment in Deutschland angestoßen
Die Charakterisierung James Petras‘ scheint gleichsam zu echoen, was nach 1945 in Westdeutschland geschah: „Die Ausbildung kollaborierender Herrscher oder Klassen entsteht aus diversen kurz- und langfristigen politischen Maßnahmen, angefangen bei direkten, militärischen, den Wahlkampf betreffenden und außerparlamentarischen Aktivitäten bis hin zu mittel- bis langfristigen Rekrutierungen, Training und Ausrichtung von vielversprechenden, jungen Führern über Propaganda und Erziehungsprogramme, kulturell-finanzielle Anreize, Versprechen von politischer und wirtschaftlicher Unterstützung bei der Übernahme politischer Ämter und über erhebliche verdeckte finanzielle Unterstützung.“
Nach 1945 bzw. eigentlich erst ab 1947 wurde ein bis dato historisch beispielloses Experiment in Deutschland angestoßen: Emigrantennetzwerke (also Netzwerke von Eliten, die aufgrund der Nazi-Rassegesetze Deutschland verlassen mussten) bildeten nach ihrer Rückkehr nach Deutschland (oft als aktive Soldaten oder Geheimdienstoffiziere) ein deutschsprachiges „Remigranten“-Netzwerk.
Für die Schaffung einer neuen, „transatlantischen“ Elite in Deutschland waren diese deutschsprachigen US-Amerikaner von entscheidender Bedeutung. Hierzu urteilt James H. Critchfield, ein US-Offizier, der 1948 der CIA beitrat und in Deutschland für den Aufbau des neuen deutschen Geheimdienstes verantwortlich war, in seinem Buch „Partners at the Creation: The Men Behind Postwar Germany's Defense and Intelligence Establishments“:
„Der Beitrag tausender Amerikaner jüdischer Herkunft, die irgendwo in Europa geboren worden waren und sich in den 1930ern und frühen 1940ern in die Vereinigten Staaten aufgemacht hatten, war ein Hauptfaktor für den Erfolg der Okkupation. Ohne ihre Mithilfe hätten die Vereinigten Staaten nicht das erreicht, was sie im Jahrzehnt nach dem Krieg bewerkstelligten. Jüdische Amerikaner trugen zu einer großen Bandbreite von Besatzungsprogrammen bei, besonders zu denjenigen, die Kenntnisse der deutschen Sprache erforderten. Sie dienten in der Militärregierung, im CIC [Counter Intelligence Corps], im Militärgeheimdienst, im CIG (und später in der CIA), im gesamten System der neu eingerichteten Gerichtshöfe (einschließlich des Internationalen Militärgerichtshofs) und in Dutzenden anderer Aktivitäten, die beträchtliche Interaktion mit den Deutschen verlangten. All jene Aktivitäten hingen von den gut ausgebildeten und hoch motivierten ehemaligen europäischen jüdischen Flüchtlingen ab, die sich meist den Vereinigten Staaten gegenüber für den sicheren Hafen erkenntlich zeigen wollten, den sie ihnen geboten hatten. Dieses lebenswichtige Segment der US-Besatzungsmacht zeigte nur selten eine Rachehaltung. Die meisten offenbarten eine starke kulturelle Affinität für die deutschsprachigen Gebiete Zentraleuropas.“
Eliten-Neubildung durch Austauschprogramme
Bereits 1940 hatte die US-Regierung ein internationales „Visitor Leadership“ Programm aufgelegt: Vielversprechende junge Menschen wurden für Aufenthalte und Studien in die USA nominiert. Die Austauschprogramme für deutsche potenzielle „Leaders“ hatten zwischen 1945 und 1955 bereits 10.000 Deutsche über den Atlantik geschickt. 5400 von ihnen entsprachen dann tatsächlich den Erwartungen, d. h. man konnte sie in Schlüsselpositionen platzieren. Damals waren bereits 25 % der Bundestagsmitglieder und 17 % der Mitglieder des Bundesrates transatlantische Stipendiaten gewesen.
Zwischen 1945 und 1955 waren bereits 25 % der Bundestagsmitglieder und 17 % der Mitglieder des Bundesrates transatlantische Stipendiaten gewesen
In Helmut Schmidts Kabinett 1974 waren z. B. sieben von 16 Ministern „Exchange-Kollegen“. 2011 bilanzierte man stolz, das internationale Besuchsprogramm der US-Regierung habe weltweit 300 Staats- und Regierungschefs hervorgebracht und mehrere tausend Personen in Ministerämtern. Bis heute große Bekanntheit hat auch das sogenannte Fulbright-Stipendienprogramm der Vereinigten Staaten. 1952 aufgelegt, entsandte es viele junge Deutsche in die USA. 1966 kam seine völlige Unterwanderung durch die CIA ans Tageslicht, was jedoch keine Konsequenzen nach sich zog. 1967 zahlte die BRD überdies bereits 80 % dieses transatlantischen Ausbildungsprogramms selbst, ein wichtiges Charakteristikum vieler transatlantischer Unternehmungen, die bald zu einem Großteil vom deutschen Steuerzahler finanziert werden sollten.
Ebenfalls 1966 kamen die CIA-Unterwanderungen einer anderen Institution ans Tageslicht: der Ford-Stiftung. Sie wurde zu einem Gutteil ebenfalls aus Geldern der Agency gespeist und sorgte vor allem in Deutschland unter ihrem Chef Shepard Stone für eine transatlantische Kulturoffensive ungeahnten Ausmaßes: Stone richtete ein Netz von Amerika-Häusern ein, legte Austauschprogramme auf, gründete über die Ford-Stiftung den Kongress für Kulturelle Freiheit und trieb damit in Deutschland den „Kampf um die Köpfe und Herzen“ voran. Stone wandte sich auch und gerade an linksgerichtete Intellektuelle, die man transatlantisch auszurichten gedachte. (Die finanzielle Unterstützung von Böll und Lenz ist ein Beispiel für diese „Kulturoffensive“). Ein großzügiger Geldsegen ging nieder, jeder Politiker „in Nöten“ durfte sich im Kampf gegen den Kommunismus nicht nur ideologisch unterstützt wissen.
Die potente Ford-Stiftung finanzierte auch die Anfänge der EU: das American Comitee for a United Europe (ACUE), eine direkte CIA-Gründung, in der Überzeugung, dass ein vereinigtes Europa die US-Interessen gegenüber Russland besser vertreten könne.
Der 1952 u. a. von dem Bankier Eric M. Warburg und dem amerikanischen Hochkommissar John J. McCloy gegründete American Council on Germany (wörtl. Amerikanischer Rat über Deutschland) und die dazu als deutsches Pendant in Hamburg gegründete Atlantik-Brücke wandten sich ebenfalls direkt an potenzielle deutschen Eliten. Jeder deutsche Kanzler muss sich bis heute dort vorstellen. Ausbildungsprogramme unter der Supervision des American Councils werden seither, seit 1973 systematisch, durchgeführt, indem man jeweils 30 junge Deutsche und 30 Amerikaner dort versammelt und zur Bildung von Netzwerken ausdrücklich verpflichtet.
Shepard Stone gründete für das 1956 in Aspen, Colorado, gegründete Aspen Institute 1974 in Berlin eine Art persönliche Dependance. Das Aspen-Institut Berlin, die Fulbright-Kommission und der German Marshall Fund sind bis heute Partner unseres Außenministeriums2). Ersteres legte hinfort unter Stones Führung ebenfalls ein systematisches Leadership-Programm auf, das deutsche zukünftige Eliten (aus Politik, Wirtschaft, Medien, Militär etc.) unter der Aufsicht von Aspen, USA, bis heute transatlantisch ausrichtet. Der Direktor des Berliner Eliteinstituts ist immer ein US-Amerikaner.
Die potente Ford-Stiftung finanzierte auch die Anfänge der EU
Die hohe Konzentration deutsche politischer Führer, welche die Schulungen beider Institute durchlaufen haben, ist frappierend: Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel durchlief die Programme ca. 2001/2002. Aus der Springerpresse war ergänzend zu entnehmen, dass sie, in der Anfangsphase ihrer Kanzlerschaft zumindest, persönlich vom Berliner Aspen-Direktor Jeffrey Gedmin, einem US-Neokonservativen und PNAC-(= Project for a New American Century)-Mitunterzeichner „gebrieft“ wurde.
Weitere prominente Beispiele für „Young Leader Alumni“ in der deutschen Politik sind, unser derzeitiger Verteidigungsminister Thomas de Maiziere (Abschlussjahrgang XI), unser ehemaliger Verteidigungsminister Freiherr zu Guttenberg (XXV), unser ehemaliger Bundespräsident Christian Wulff (XIV), unser derzeitiger Bundespräsident Gauck, der aber aus Altergründen „nur“ Mitglied wurde, ohne als „Junger Führer“ beschult zu werden, der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir (XXIII), die neue Grünen-Spitze Katrin Göring-Eckardt, Bild- bzw. BAMS-Chefredakteur Kai Diekmann (XVII), unser Wirtschaftsminister Phillipp Rösler im Leadership Programm von 2010 gesichtet, Wolfgang Ischinger, der Initiator der Münchner Sicherheitskonferenz (IV), Hans-Gert Pöttering, ehemaliger Präsident des EU-Parlaments (I), Stahlunternehmer bzw. Unternehmensberater Jürgen Großmann (VI) und viele mehr.
Beide Eliteunternehmen, die Atlantik-Brücke wie das Aspen-Institut, bezeichnen sich als „außenpolitische Führungsgremien“ und das mit gutem Grund: Durch ihre vorausschauende Arbeit wird ein etwaiges „strategisches Abdriften“ Deutschlands verhindert. Dies geschieht ganz konkret z. B. über die Besetzung von Schlüsselpositionen im Auswärtigen Ausschuss (AA) des deutschen Bundestages. Denn dieser Ausschuss ist faktisch ein Entscheidungsorgan, das die Außenpolitik Deutschlands und einschlägige Gesetze vorbereitet: Das Parlament ist noch nie von seinen Empfehlungen abgewichen!
Der Auswärtige Ausschuss wird immer von einem zuverlässigen Transatlantiker geführt: Seit 2005 steht ihm Ruprecht Polenz vor (selbst seit 1994 Mitglied im AA), ein absolut zuverlässiger Politiker, was US-Interessen anbelangt. Schon vor Jahren forderte er den Einsatz deutscher Soldaten auch im gefährlichen Süden Afghanistans und ist ein lautstarker Verfechter des EU-Beitritts der Türkei, ebenfalls eine alte US-Forderung. Den Afghanistan-Einsatz im gefährlichen Süden forderten ebenfalls bereits 2007 Hans Ulrich Klose und zu Guttenberg, ersterer zurzeit stellvertretender Vorsitzender und zugleich ehemaliger Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses und „Old Leader“, also Ausbilder bei der Atlantik-Brücke; letzterer (zu Guttenberg) Young Leader Alumnus, der 2002 umstandslos auf Veranlassung der Young Leader Alumna Angela Merkel, die damals Fraktionsvorsitzende der CDU war, in den Auswärtigen Ausschuss gesetzt wurde, obwohl er gerade erst in den Bundestag gewählt worden war.
Im Gegensatz zu unserem Nachbarland Frankreich, wo zukünftige Eliten auf den staatlichen „Grandes Écoles“ ausgebildet werden, liegt die Elitenbildung in Deutschland ausschließlich in der Hand dieser intransparenten, öffentlichkeitsscheuen, privaten transatlantischen Eliteinstitute, die jedoch gleichwohl zu einem Gutteil von Steuergeldern finanziert werden.
Im Gegensatz zu unserem Nachbarland Frankreich, wo zukünftige Eliten auf den staatlichen „Grandes Écoles“ ausgebildet werden, liegt die Elitenbildung in Deutschland ausschließlich in der Hand intransparenter, öffentlichkeitsscheuer, privaten transatlantischer Eliteinstitute
Wer über eine Neuorientierung der deutschen Politik nachdenkt, wohin auch immer, sei es auch nur ein noch so bescheidenes Abrücken von einer überstarken Bindung an transatlantische Kreise, und für eine gewisse Diversifizierung der Bindungen plädiert, kann dies selbstverständlich tun. Es wird jedoch erst dann Folgen haben, wenn sich eine relevante Öffentlichkeit sowohl im In- als auch im Ausland beginnt, aktiv mit dem Thema Elitenbildung auseinanderzusetzen. Ansonsten werden wir uns weiterhin fragen müssen, warum so viel Kluges und Richtiges über die Anatomie unserer Misere gesagt und geschrieben wurde, dies jedoch immer folgenlos blieb, ja bleiben musste.
Vorläufige Bestandaufnahme
Transatlantische Netzwerke haben im Sinne der Pax Americana eine geostrategische Bedeutung zur Sicherung des Einflussgebietes des US-Imperiums, ganz im Sinne der eingangs zitierten Analyse Zbigniew Brzezinskis. Diese Netzwerke definieren amerikanische Interessen als deckungsgleich mit deutschen und europäischen, diffamieren Bestrebungen, von der vorgegebenen Linie abzuweichen, reflexartig als „Antiamerikanismus“ und haben in ihren Mitgliedern ein „Frühwarnsystem“ gegen ihr Schreckgespenst – die „unselige“ Achse Paris-Berlin-Moskau.
Dieser Schrecken aller Transatlantiker wurde 2003 Realität, als der deutsche Kanzler Gerhard Schröder sich im Einvernehmen mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac gegen eine deutsche Beteiligung am Irak-Krieg aussprach. Schröder wurde folglich unnachgiebig kritisiert. Die deutsche Enthaltung bei der Libyen-Resolution im UNO-Sicherheitsrat 2011 wurde in transatlantischen Kreisen ebenfalls als Super-GAU hochstilisiert.
Dabei wäre die Frage zu stellen, ob es aus der Sicht der Atlantiker überhaupt einen Grund geben kann, das Konzept vom „Europa der Vaterländer“ de Gaulles mit einer starken Kooperation zwischen Frankreich, Deutschland und Russland als dermaßene Bedrohung aufzubauschen – es blieb ja eigentlich immer nur Schlagwort: Denn eine enge deutsch-französische Kooperation hätte nach der Explosion der ersten französischen Atombombe 1960 in der algerischen Sahara die Frage nach deutscher Teilhabe bedeutet: Adenauer machte sich durchaus Gedanken, wie die Bundesrepublik an Atomwaffen kommen könnte (etwa bei einem Treffen mit de Gaulle am 4. Juli 1962). Anderseits entrüstete sich Adenauer über eine Bemerkung des französischen Ministerpräsidenten Michel Debré, Staaten ohne Atomwaffen könnten nur Satellitenstaaten sein. De Gaulle war jedoch nie bereit gewesen, die „Force de Frappe“ zu teilen, weswegen eine hypothetische Achse Paris-Berlin den USA auch nie bedrohlich werden konnte.
Heute sind die Probleme freilich anderer Natur: Die transatlantische Klasse sitzt in Frankreich mittlerweile ebenfalls fest im Sattel, was in der Person Nicolas Sakozys („unser Mann in Paris“) und seiner Maßnahme der vollen Integration der französischen Truppen in die NATO, einen vorläufigen Höhepunkt fand. Frankreichs neoimperialistische Politik in Nordafrika und Nahost (Libyen, Syrien) sind ebenfalls kein gutes Zeichen für etwaige Anknüpfungspunkte an eine Achsenbildung oder eine neue Machtpolitik im Interesse des europäischen Kontinents, angeführt durch Frankreich und Deutschland.
Nach Informationen des Magazins „Der Spiegel“ soll der französische Präsident Nicolas Sarkozy 2007 der deutschen Regierung angeblich die Teilhabe an der Entscheidungsgewalt über die französischen Atomwaffen angeboten haben.3 Kanzlerin Angela Merkel und der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier hätten abgelehnt. Die Information kann nicht auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden, sie könnte falsch sein. Wäre sie richtig, ließe sie die Interpretation zu, dass die deutschen Politiker nur auf ihre transatlantische Festigkeit geprüft wurden und den Test bestanden haben. Die deutsche Regierung hätte (die Richtigkeit der Information vorausgesetzt) das Angebot aber annehmen können, ja müssen: Eine deutsche Mit-Entscheidungsgewalt hätte nicht gegen den Atomwaffensperrvertrag verstoßen, da die Waffen ja weiter im französischen Besitz geblieben wären.
Deutschland hat sich jedoch aus der aktiven Außenpolitik völlig verabschiedet: Sein politisches Personal wirkt mehr und mehr wie amerikanische Regierungsangestellte mit Hilfsaufgaben zur Umsetzung der imperialen Agenda, sei es in Afghanistan oder aktuell in Syrien, auch was die geplante Entsendung von Bundeswehrtruppen an die türkisch-syrische Grenze anbelangt. Dieser Zustand ist unbefriedigend, vor allem deswegen, weil er zum Schaden Deutschlands ist und auch zum Schaden der anderen beteiligten Völker.
Deutschland hat sich aus der aktiven Außenpolitik völlig verabschiedet
Wer am Status Quo etwas ändern möchte, muss zuallererst eine korrekte Analyse abliefern, warum sich an der Politik unseres Landes nichts ändert, egal welche Parteien gerade an der Regierung sind: Transatlantische Netzwerke sind in allen Parteien wirksam, in Wirtschaft, Medien und Militär, für sie ist es völlig unerheblich, welche Parteienkonstellationen gerade „an der Macht“ sind. Sie sorgen dafür, dass jeder neue Gedanke, jeder neue Lösungsansatz, jeder eigene Weg, der, wenn auch nur gefühlt, geeignet sein könnte, die Vormachtstellung der nicht-eurasischen Macht in Europa zu gefährden, im Keim erstickt wird.
Für die Schulung von Eliten und für die Bildung von Netzwerken im In- und Ausland darf es jedoch kein Exklusivrecht geben. Eine Elitenbildung und Etablierung alternativer Netzwerken, die sich bei der Auswahl ihrer „Young Leaders“ an anderen Kriterien orientierte, als denen der charakterlichen Flexibilität und geistigen Mediokrität, hätte ohne große Mühe den Vorteil, bei vorläufig zahlenmäßiger Unterlegenheit, eine größere geistige Attraktivität und Wirksamkeit entwickeln zu können.
Denn noch nie war mit zeitlichem Abstand zum Zweiten Weltkrieg und der Beendigung des Kalten Kriegs sowie dem zusehenden geistigen, moralischen und wirtschaftlich-finanziellen Verfall der nicht-eurasischen Vormacht in Europa der Zeitpunkt so günstig, um Notwendiges und Neues zu wagen. Dass es hier zu Russland keine Alternative gibt, ist eine Binsenweisheit. Michel und Bär ergänzen sich einfach perfekt, außer sie werden durch mörderische, hoffentlich überwundene Ideologien gebeutelt.
Bereits jetzt darf man jedoch darauf gefasst sein, dass schon eine angedachte Akzentverschiebung sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dem (natürlich völlig unbegründeten) Verdacht aussetzen wird, als „regionale Koalition“ angesehen zu werden, die danach trachtet, „Amerika aus Eurasien hinauszuwerfen und damit Amerikas Status als Weltmacht bedroht“ (Brzezinski).
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