Eine andere Demokratie ist möglich

Weshalb sich die Wertstufen unserer Gesellschaft künftig in einem Vier-Kammer-Parlamentarismus widerspiegeln sollten

Von Prof. Dr. phil. JOHANNES HEINRICHS

Der nächste evolutionäre Schritt, aus einer Parteiendiktatur herauszufinden, kann – sobald es über die Gemeindeebene hinausgeht – nicht ernsthaft eine einseitige Direktdemokratie sein. Davon jedenfalls ist Johannes Heinrichs, Professor für Philosophie und Sozialökologie, überzeugt. Denn eine solche bliebe weiterhin für alle Manipulationen anfällig und könne außerdem nicht die Tausende von Gesetzen, die heute den gesetzgeberischen Alltag ausmachen, zur unmittelbaren Abstimmung durch das Volk stellen. Heinrichs hat bereits vor Jahren eine Alternative ausgearbeitet, welche dieser Tage zeitgemäßer denn je erscheint und die nicht nur den aktuellen Problemstellungen gerecht würde, sondern auch ein wirklich integrales Gemeinwesen herausbilden könnte.

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Die Problematik

Um es vorweg klar zu sagen: Volksbegehren, Volksabstimmungen, Volksentscheide in den großen Fragen sind eindeutig zu befürworten, etwa bei der Einführung des Euro oder (heute) seiner Beibehaltung, bei der Akzeptanz des Vertrages von Lissabon, vielleicht sogar bei der Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke, im regionalen Rahmen auch zum Thema Stuttgart 21. In den genannten Fällen zeigt sich aber schon, wie sehr einfache Ja-Nein-Entscheidungen fragwürdig und manipulierbar sind, wie sehr es also der Beratung von gewählten sachkompetenten Vertrauensleuten der Bevölkerung bedarf.

Hierin ist das erste der beiden großen Hauptprobleme unserer gegenwärtigen Demokratie begründet: Sind unsere Parteipolitiker Experten, nicht im Sinne bloßer Fachleute (oft genug „Fachidioten“), sondern im Sinne kompetenter Vertrauensleute der Bevölkerung, also Menschen, die Sachkompetenz mit Vertrauenswürdigkeit verbinden? Das ist selten der Fall, gerade weil sie Parteivertreter sind und überhaupt nur als solche „Parteigänger“ eine Chance haben, gewählt zu werden.

Wahlomaten sind Unsinns-Vernebelungs-Maschinen

Unsere Parteien jedoch sind „Allroundparteien“, Allzuständigkeitsparteien. Sie und ihre Repräsentanten werden gewählt für Alles – und Nichts! Darin liegt ein struktureller Fehler der gegenwärtigen Demokratien. Diese „Kinderkrankheit“ fällt im angelsächsischen Modell mit zwei Parteiblöcken nicht gerade geringer aus. Wahl heißt in den USA: Welche der beiden großen Politmannschaften gewinnt das Match? Das mag für Stabilität sorgen; allerdings eine am Maßstab der Selbstregierung des Volkes recht erbärmliche Stabilität, die sehr arm an Alternativen ist. Doch bleiben wir beim kontinentaleuropäischen Muster einer Vielheit von Parteien, die Koalitionen eingehen können.

Nehmen wir die Grünen als Beispiel für die gemeinte Allzuständigkeit: Sie sind wohl immer noch die Kompetentesten in Umweltfragen. Doch wie steht es mit der Bewältigung der Migrationsangelegenheiten, wenn wir am Sinn und Wert der in Jahrtausenden gewachsenen Kultureinheiten namens Nationen festhalten? Bereits in den 1980er-Jahren hat der Verfasser dieser Zeilen die Grünen wegen ihrer Geringschätzung der kulturellen „Biotope“ zugunsten einer unklaren Multi-Kulti-Haltung (mit der sie auch die SPD infizierten) wieder verlassen.

Dies ist eines der vielen Beispiele: Kompetenz in einem Politikbereich garantiert nicht ebensolche in einem anderen. Die Bündelung ganz verschiedener Politikbereiche in Allzuständigkeitsparteien führt notwendigerweise zu struktureller Unsachlichkeit. Dieselbe schlechte, weil unsachliche Bündelung ganz verschiedener Themen ließe sich leicht bei allen derzeitigen Parteien aufzeigen. So wird z. B. von der CDU/CSU eine kapitalismusfreundliche Wirtschaftspolitik mit christlichen Werten zusammengezwungen – was bei näherer Betrachtung gar nicht zusammen passen mag.

Überall gerät der Wähler ins Dilemma: Für den einen Bereich kann er die eine Partei bejahen, für den anderen Bereich eher eine andere. Daher wurden eigens „Wahlomaten“ erfunden, die dem Wähler in seiner Ambivalenz helfen sollen, nach dem Motto: Das Dilemma ist zwar unüberwindbar, doch die Maschine macht es dir leichter, mit diesem Unsinn zu leben. Wahlomaten sind Unsinns-Vernebelungs-Maschinen. Denn es bleibt dabei: Der Wähler muss sich für einen Parteiblock und damit für ein von ihm selten gewolltes Bündel entscheiden. Das wird nicht besser durch das Stimmensplitting von Erststimme für einen Direktkandidaten (einer Allzuständigkeitspartei!) und Zweitstimme für eine Parteienliste. Auch so genanntes Kumulieren und Panaschieren, wie es manche systemimmanent bleibenden Kritiker (z. B. Hans Herbert von Arnim) befürworten, könnten nicht wirklich aus diesen Dilemmata herausführen. Herausführen kann nur bereichsspezifische Wahl.

Unsere bisherigen Demokratien westlicher Prägung sind ausgeprägt kapitalistische Demokratien

Bevor dieses vom Autor des Artikels entwickelte Modell näher erläutert wird, sei der zweite Hauptfehler des bestehenden Systems benannt, den jeder kennt, ohne noch auf wirksame Abhilfe zu hoffen: Die bekannte Tatsache, dass Geld die so genannte Demokratie regiert, nicht etwa der angebliche Souverän (sprich die Menschen als Wähler und Mitbestimmende). Unsere bisherigen Demokratien westlicher Prägung sind ausgesprochen kapitalistische Demokratien. Ohne hier auf das Wesen des Kapitalismus näher einzugehen, das auf einem sich aus sich selbst vermehrenden Geld beruht, lässt sich vielfach belegen, dass die politische Macht im höchstem Maße von der Wirtschaftsmacht abhängt. Die Tatsache, dass auf jeden Bundestagsabgeordneten mehrere Lobbyisten kommen, ist nur ein Aspekt dieser Wirtschaftsabhängigkeit. Das Denken der Abgeordneten ist wirtschaftsorientiert. Bis heute fragt man selbst bei eindeutig kulturellen Themen wie der Migrationsfrage nach der Zahl der Einwanderer (sind wir ein Einwanderungsland oder nicht?), allenfalls noch nach deren wirtschaftlicher Fachqualifikation, nach wie vor hingegen kaum nach der Qualität und den Bedingungen der kulturellen Integration. Die Wirtschaftsorientierung scheint „alternativlos“, um an das Unwort des vorigen Jahres zu erinnern.

Die Alternative

Die beiden aufgezeigten strukturellen Hauptschwierigkeiten (das Parteienproblem sowie die Wirtschaftsdominanz) können überwunden werden mit einem Modell, das auf soliden anthropologischen und systemtheoretischen Grundlagen fußt und zugleich eine innere Synthese von direkter und parlamentarischer Demokratie bietet. Auch für die direktdemokratische und regionale Bewegung wäre es äußerst wichtig, dieses Modell endlich ernster zu nehmen, als es von ihren einseitigen, bisher wenig offenen Wortführern geschieht.

Jede Gesellschaft besteht latent aus vier Subsystemen, wie sich von den anthropologischen Entstehungsbedingungen der Gesellschaft her klar und streng nachweisen lässt: Wirtschaft, Politik im engeren Sinne, Kultur und Grundwertesystem.1 Diese Subsysteme stehen in einer Reflexionsstufen- und Wertstufenordnung zueinander (vgl. Abb. unten):

  • Wirtschaft ist der gesellschaftliche Umgang mit Gütern. Ihr zusammenfassendes Medium bildet das Geld.
  • Politik i. e. S. heißt Kompetenzen- und Machtverteilung. Ihr zusammenfassendes Medium ist das Recht.
  • Kultur bedeutet die Ebene der Gegenseitigkeit oder Kommunikation. Kultur ist der Geist der Gemeinsamkeit, der weit über die Wirtschafts- und Rechtsordnung hinausgeht. Ihr Medium ist die Sprache. (Selbst die Kunst, die zentral zur Kultur gehört, lässt sich als eine Art von Meta-Sprache, eine Sprache über der normalen Sprache, charakterisieren.)
  • Über den bedingten, kulturellen Werten der Volksgemeinschaft stehen jedoch die unbedingten Werte. Beim Individuum kann man von dessen Letztwerten (Ultimate Values) sprechen, bei einer Kulturgemeinschaft, genauer einer Wertegemeinschaft, spricht man von Grundwerten, die sich in Wertaxiomen oder Prinzipien zusammenfassen lassen, und sich in Riten (religiöser oder profaner Art) manifestieren.
Der Viergliederungsgedanke, symbolisiert als Haus
(Bild: J. Heinrichs)
 
 

Die ganze „Modernisierung“ der Gesellschaft besteht seit Beginn der Neuzeit in der geordneten Differenzierung der Wertsphären:

  • von Religion und Politik (vgl. die blutigen neuzeitlichen Kämpfe um die Trennung beider in einem Staat, der auf Recht, nicht auf Autoritäten von Gottes Gnaden beruht)
  • von Religion und autonomer Kultur (vgl. den Kampf der Wissenschaftler und Künstler um ihre Denkfreiheit)
  • von Politik und Kultur (vgl. die unheilvolle Dominanz der Machtpolitik im 2. und 3. Deutschen Reich, während das mittelalterliche Reich eine kulturelle und religiöse Einheit bildete)
  • Die Differenzierung von Politik und Wirtschaft ist noch am wenigsten gelungen: Man betrachte z. B. das bis heute andauernde Katz- und-Maus-Spiel zwischen „freier“ Wirtschaft und Politik.

Kurzum: Wenn es richtig ist, dass das wesentliche Prinzip der Moderne die Differenzierung der Systemebenen ist, dann sind wir mit dieser Moderne auf halber Strecke stehen geblieben. Wir müssen zunächst diese verwirklichen, bevor wir in eine spirituell und vielleicht auch intellektuell noch weiter entwickelte „Postmoderne“ übergehen können.

Die Tatsache, dass auf jeden Bundestagsabgeordneten mehrere Lobbyisten kommen, ist nur ein Aspekt der Wirtschaftsabhängigkeit

Das Viergliederungsmodell bietet nun die Lösung: Wir müssen den vier System- und Wertebenen endlich institutionell Rechnung tragen, indem wir das Herz der Demokratie, das Parlament, dementsprechend in vier Kammern oder Teilparlamente gliedern, gemäß obiger hierarchischer Reihenfolge:


  • Eine Grundwerte-Kammer, in der es ein faires Miteinander der Weltanschauungen und Konfessionen gibt sowie möglichst aus dem dialogischen Konsens heraus die Umsetzung der ethischen Grundwerte in Gesetze, soweit erforderlich, z. B. in Fragen der medizinischen Ethik (Präimplantationsdiagnostik, Sterbehilfe).  
  • Eine Kultur-Kammer, in welcher der Vorrang der Kulturfragen (Schule, Wissenschaft, Publizistik, Kunst) effektiv wahrgenommen wird, gleich ob auf Europaebene (Miteinander der Sprachen und Kulturen, was den Reichtum Europas ausmacht) oder auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene.
  • Eine Politik-Kammer, die in den Fragen der Boden- und Verkehrspolitik, der inneren und äußeren Sicherheit, der Außenpolitik sowie der Rechtsentwicklung den Vorgaben der obigen Parlamente folgt. Also wäre z. B. ein militärischer Einsatz ohne die Zustimmung der Grundwerte-Kammer nicht möglich. Auch dass etwa ein amerikanischer Präsident, pauschal gewählt mit den Stimmen fundamentalistischer Christen, einen Irak-Krieg beginnt. Die Grundwerte und die politische Friedensfrage müssen sicher in einen offenen Zusammenhang gebracht werden, doch eben nicht in einem so versteckten und kurzschlüssigen.
  • Eine Wirtschafts-Kammer, in der allein das verwirklicht werden kann, was derzeit nur verbal beschworen wird: Wirtschaftsdemokratie. Über die Art des Geldwesens sowie der gesamten Wirtschaft müssen die betroffenen Menschen selbst entscheiden können. Es versteht sich, dass allein in dieser ernst genommenen Institution einer Wirtschaftsdemokratie viel Sprengstoff zu einer friedlichen Revolution liegt. Doch ohne solche demokratischen Institutionen bleiben die Ideen der Geldreformer weiterhin bloße Träume. Auch Prozentrechnungen (über die Wirkung des Zinseszinsmechanismus) sind bloße Träume, ohne gesamtpolitische Institutionen der gemeinschaftlichen Willensbildung und Durchsetzung. Ohne vergleichbare Kammern auf regionaler Ebene können auch keine regionalen Wirtschaftskreisläufe durchgesetzt werden.

Die Vierstufung des Parlamentarismus ist gleichermaßen auf Weltebene unabdingbar. Ein bloß einheitliches UNO-Parlament, wie viele es fordern, würde nur das unsachliche Durcheinander aller Themen in den nationalen Parlamenten widerspiegeln.

Auf jeder „regionalen“ Ebene (Kommunen, Bundesländer, Nation, Europa, Welt) sollte jedes Teilparlament in getrennten Wahlen durch kompetente Vertrauensleute der Bevölkerung besetzt werden, am naheliegendsten durch jährliche Wahl je eines der Teilparlamente. Dies bedeutet dann Sachabstimmung über jeweils einen dieser großen Bereiche: Wirtschaftsdemokratie, Politik i. e. S., Kulturdemokratie und Grundwertedemokratie – wovon wir zurzeit nur ineffektiv träumen können.

Die Viergliederung würde auch eine viel direktere Demokratie zu Folge haben, nämlich nicht nur gelegentliche Volksabstimmungen. Direkte Demokratie bedeutet bekanntlich direkte Abstimmung über Sachfragen. Bereichsspezifische Abstimmungen, wie oben beschrieben, erfüllen denselben Zweck, nur eben über kompetente Vertrauensleute, indem diese sachspezifisch vom Volk gewählt wurden.

Allerdings: Solche Abstimmungen über Sachfragen richten sich auf ganze, zusammenhängende Sachbereiche. Das schwächt ihren Sachbezug nicht, sondern verstärkt ihn, schließlich gibt es keine isolierten Sachfragen. Sie gehören immer ganzen Wertkomplexen an, und zwar am umfassendsten den System- und Wertbereichen: Wirtschaft, Politik i. e. S., Kultur, Grundwerte. Für diese großen Wertbereiche werden Experten im Sinne von Vertrauensleuten der Bevölkerung delegiert, die befähigt sind, ihre Positionen, für die sie gewählt wurden, in ein Beratungsgremium einzubringen. Auf diese Weise wird die direkte sachbezogene Abstimmung in eine parlamentarische Demokratie der Vertrauensdelegation und der Beratung eingebracht. Damit wird ein vom Wähler kontrollierbarer, ggfs. auch während einer Legislaturperiode von ihm einklagbarer Sachbezug erreicht, wie er weder in den derzeitigen Wahlen von Einheitsparteien (die alle Themen in undurchschaubarer Weise durch Machtpoker zusammenbündeln), noch in Ja-Nein-Volksabstimmungen erreicht werden kann, in denen das Mehrheitsprinzip allein waltet. Demokratie besteht bei weitem nicht allein in der formalen Geltung des Mehrheitsprinzips. Sie bedeutet kommunikative Gesellschaft, in welcher Vertrauensübergabe, sachkompetente Beratung für Konsensfindung und Wertstufung ebenso so wichtig sind wie das Stimmenzählen.

Das Herz der Demokratie, das Parlament, sollte in vier Kammern oder Teilparlamente gegliedert werden

Die bisherigen, strukturell unsachlichen Allzuständigkeitsparteien werden – allerdings mit Nachhilfe eines Parteiengesetzes, das Blockbildung zwischen den Ebenen ausschließt – zu Sachparteien, auf der Wirtschaftsebene z. B. eine neoliberal-kapitalistische Partei, die nun als solche Farbe bekennen muss, gegenüber einer Partei der zinskritischen Geldreformer, einer anderen Gruppierung für Gemeinwohlökonomie usw. Diese Sachparteien stehen für die alternativen Wertentscheidungen in jedem der Bereiche. Es geht also nicht um eine autoritäre Regierung durch Weise, nicht um eine Philosophenrepublik (Platons Vorstellung), nicht um die Lieblingsvorstellungen einiger angeblich Wissender, sondern um die weise Einrichtung von Strukturen, in denen die Wertentscheidungen der Bevölkerung selbst effektiv zum Zuge kommen können.

Nochmals: Eine einseitige Direktdemokratie, die heute ohnehin (auch in Ländern mit mehr Direktdemokratie als derzeit bei uns) bloß flankierende Bedeutung hat,  bleibt dagegen den Tücken des bloßen Mehrheitsprinzips wie der Wortführerschaft Einiger viel stärker unterworfen als die hier umrissene innere Synthese beider historischen Demokratieformen. Es geht somit um einen neuen Parlamentarismus, der selbst direktdemokratisch-sachbezogen ist und worin die Wertstufung der Sachbereiche berücksichtigt ist.

Neben der Hierarchie der Wertebenen muss es allerdings auch eine Rückkoppelung der untergeordneten Parlamente an die übergeordneten geben, z. B. müssen die ökologischen Entscheidungen des Grundwerteparlaments auch auf ihre ökonomische Finanzierbarkeit geprüft werden. Diese Rückkoppelung kann am einfachsten in erster, zweiter, dritter parlamentarischer Lesung eines Gesetzes der zuständigen Kammern erfolgen, bei komplizierteren Fragen aber auch in gemeinsamen Kommissionen erarbeitet werden. Gemischte Kommissionen oder auch Vermittlungsausschüsse (z. B. zwischen Wirtschaft und Vertretern der ökologischen Grundwerte) machen die wesentliche Neuerung, die bereichsspezifische Wahl der Abgeordneten, keineswegs rückgängig. Jeder Abgeordnete wird und soll die Fragen unter seiner Wertperspektive betrachten und verantworten, ist jedoch gezwungen, die anderen Perspektiven einzubeziehen.

Wann welche Kammer zuständig ist? Immer dann, wenn sie sich eines Themas annehmen will. Wesentlich ist bei dem Zusammenspiel der parlamentarischen Kammern nämlich nicht eine eindeutige materiale Zuordnung der Sachbereiche zu den Teilparlamenten, sondern die unterschiedliche Wertperspektive, aus der die unterschiedenen Parlamente dieselben Sachfragen beurteilen. Dazu ein Beispiel: Wenn etwa in der Grundwerte-Kammer beschlossen würde, 7 % des Bruttoinlandsproduktes an die bedürftigsten Entwicklungsländer abzuführen, könnte die Wirtschafts-Kammer geltend machen, das sei bei weitem zu viel, das würde unsere Wirtschaft ruinieren. Eine solche Rückmeldung könnte die Grundwerte-Parlamentarier nicht unbeeindruckt lassen. Sie würden Gefahr laufen, als verstiegene Idealisten nicht wiedergewählt oder gar mitten in der Wahlperiode abgewählt zu werden.

Nach Berücksichtigung der Rückmeldungen aus den jeweils untergeordneten Kammern bleibt es jedoch – im Konfliktfall – beim gesetzgeberischen Vorrang der  jeweils übergeordneten Kammern. Das bedeutet, dass letztlich die Grundwerte-Kammer – um das Beispiel wieder aufzunehmen – das ihr richtig scheinende und von den Wählern getragene Maß der Entwicklungshilfe durchsetzen kann. Was dies für die Durchsetzung der Grundwerte, beispielsweise in Richtung einer solidarischen, dienenden Wirtschaft bedeuten würde, kann man sich leicht ausmalen.

Wir sollten den Druck, der von den höheren Wertstufen auf die unteren, basaleren ausginge, jedoch nicht überschätzen, da dieselben Wähler, welche die Grundwerte-Kammer wählen, auch diejenigen sind, die die Wirtschafts-Kammer wählen. Entscheidend ist, dass der Wählerwille überhaupt bereichs- also themenspezifisch zum Tragen kommen kann – und nicht mehr alle Themen und Argumente „diabolisch“ durcheinandergewürfelt werden können.

Es wäre dienlich, sich unter dem gegenwärtigen Problemdruck in Wirtschaft und Politik mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass die demokratische Organisation unserer Gemeinwesen erst am Anfang steht, dass wir uns auf Dauer nicht mit Demokratie als einem Nachkriegsimportartikel aus den USA zufrieden geben dürfen, dass die großen Errungenschaften unserer Vorfahren diesseits und jenseits des Atlantik durch unsere eigenen, heutigen, aber nicht geringeren Entwicklungen ergänzt werden müssen, um nicht wieder verloren zu gehen. Erst solche großen Perspektiven befähigen uns, die gängigen Politphrasen sowie das Kurieren an bloßen Symptomen effektiv hinter uns zu lassen.

„Integration durch Differenzierung“ lautet die Formel einer wirklich integralen Gestaltung der Gemeinwesen

Auch eine „Region“ (in welcher Größe auch immer man sie ansetzt) ist keine Insel, die unabhängig von den globalen und nationalen Vorgaben gestaltet werden könnte. Wer hauptsächlich „regionalen Aufbruch“ von unten will, müsste zugleich für nationalen und globalen Aufbruch durch neue institutionelle Strukturen eintreten. Auf diese Weise würde z. B. möglichst regionbezogenes Wirtschaften gesetzlich verbindlich werden können. Ob die Anpassung der Wirtschaft an regionale Kreisläufe auf Dauer ohne verbrieftes Recht gelingt, ist zu bezweifeln. Ohne den gleichzeitigen Blick aufs Große und Ganze würde es den zahlreichen Reformgruppen „von unten“ ergehen wie in der Weimarer Republik: Sie wurden unversehens „von oben“ hinweggefegt.

Ausblick: Integrale Politik statt neuer Integralismus

Es handelt sich bei diesem Viergliederungs- oder Wertstufenmodell einer künftigen Demokratie um eine friedliche Revolution der Gesamtpolitik vom Geiste her. Doch im Unterschied zu spirituellen Parteien wie den „Violetten“ (deren spirituelle Anliegen vom Verfasser weitgehend geteilt werden) findet in diesem Modell keine schwärmerische Vermischung der Systemebenen und daher kein neuer Integralismus statt. Denn jede Ebene der Gesamtpolitik muss ihre Eigenständigkeit behalten: Man kann Wirtschaft sowenig mit Nächstenliebe allein wie etwa mit einer „Reinkarnationslehre“ gestalten. Positiv formuliert: Erst die Differenzierung der Wertstufen macht eine spirituelle Partei sinnvoll. Sie ruft allerdings auch andere Weltanschauungsgruppen oder -parteien (konfessionelle wie atheistische) auf den Plan. Sie alle können und sollen sich voll in das Gemeinwesen einbringen, jedoch ohne kurzschlüssige Vermischung aller Ebenen (wir sollten nicht die kapitalistische Demokratie durch eine spiritualistische ersetzen wollen!), also über die Grundwerte-Kammer – mit einer Gesetzgebung aus dem dialogischen Konsens. Das ist weltanschaulicher Pluralismus, zu Ende gedacht und durchgeführt, wovon wir derzeit (unter „staatskirchenrechtlichen“ Verhältnissen, ein Thema für sich!) meilenweit entfernt sind.

Das Entsprechende gilt von der politischen Ebene im engeren Sinne wie von der Kultur wie von der Wirtschaft. Überall gibt es plurale Wertpositionen, die keineswegs mit solchen auf den anderen Ebenen gekoppelt sind. So wird etwa künftig ein guter Katholik wegen seiner konfessionellen Zugehörigkeit keine Wirtschaftspartei mehr wählen müssen, welche nach seiner Auffassung die christlichen Wertoptionen in der wirtschaftlichen Praxis mit Füßen tritt.

„Integration durch Differenzierung“ lautet die Formel einer wirklich integralen Gestaltung der Gemeinwesen, im Unterschied zu einem neuen Integralismus.2 Wir verstehen aber auch, warum ein derart konstruktives Konzept wie das dargelegte einer vierwertigen, wertegestuften Demokratie bei den Besitzstandwahrenden instinktiv auf Widerstand trifft. Der Übergang zu einer parlamentarischen Institutionalisierung der Wertstufen bedeutet einen qualitativen Evolutionssprung, eine „Revolution der Demokratie“, die an Tragweite mit dem Übergang von der Monarchie in die Demokratie vergleichbar wäre.

 

ANMERKUNGEN

  1. Vgl. hierzu Reflexionssystemtheorie der Gesellschaft
  2. Vgl. auch www.integralworld.net/pdf/heinrichs.pdf

 

LITERATUR