Für das Vaterland stirbt man, im Mutterland lebt man

Eine ganz andere Sicht auf unsere Zivilisation

Von Dr. rer. nat. KIRSTEN ARMBRUSTER

Wohin steuert unsere von männlichem Denken und Handeln geprägte Gesellschaft? Gäbe es ganz andere erfolgsversprechende Wege, weit abseits der ausgetretenen, die uns aus der Krise führen könnten? Ja, meint Kirsten Armbruster, Autorin des Buches „Starke Mütter verändern die Welt“. Wir müssten uns lediglich rückbesinnen auf die Erfahrungen früher Matriarchate und diese auf die heutige Zeit übertragen. In ihrer Vision bildet die Mutter die sakrale Mitte der Gesellschaft, einer Gesellschaft, die dem Leben verpflichtet ist. Im Beitrag zeigt sie, dass jene, die „matriviviale Gesellschaft“, nichts mit dem trennenden Feminismus zu tun hat, sondern ein versöhnliches Prinzip in sich trägt.

In der Schule werden die Weichen für unsere Sicht auf die Gesellschaft gestellt, in der soziologischen Fachsprache heißt dies, dass Werte internalisiert werden. Was dort unterrichtet wird, gilt als wahr, als wissenschaftlich bewiesen und in seinem Wahrheitsgehalt hat es besonderes Gewicht, weil Schule durch Vater Staat autorisiert wird.

Nehmen wir einmal das Fach Geschichte. Die Geschichte, die dort gelehrt wird, ist die Herrschaftsgeschichte des weißen Mannes und eine Geschichte des Krieges. Eine Schlacht jagt die nächste und es wimmelt nur so von siegreichen Helden. Überhaupt fängt Geschichte erst so richtig in der Antike an, zu einem Zeitpunkt, wo monumentale Gebäude aus Stein entstehen, die männlichen Herrschern ein Denkmal setzen. Wir lernen, dass mit der Antike, die Zivilisation beginnt und Zivilisation wird gleichgesetzt mit: Der weiße Mann herrscht, Kriege gab es schon immer, und Menschsein ist an diese Paradigmen geknüpft. Diese Inhalte so zu lehren assoziiert: Wenn so, mit diesen Paradigmen, die Zivilisation beginnt, kann davor ja nur Barbarei geherrscht haben. Doch stimmt dies tatsächlich?

Zivilisation bedeutet im Allgemeinen: Der weiße Mann herrscht, Kriege gab es schon immer und Gott ist männlich

In der Schule wird auch das Fach Religion unterrichtet. Religion beginnt dort mit der Schöpfungsgeschichte. Die Welt wurde in sieben Tagen durch einen männlichen Gott geschaffen. Alternativ wird zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt der biologische Ansatz der Evolutionstheorie gelehrt, hier wird auf Gott verzichtet. Dafür haben wir es nach humanistischer Lesart mit einer reiferen, da wissenschaftlichen Sicht auf die Dinge zu tun. Ganz klar ist jedenfalls, wenn schon Gott, dann ist das Göttliche ursprünglich männlich und der männliche Monotheismus ist zivilisatorisch ein großer Fortschritt. Dies wird uns ebenfalls assoziiert. Nicht zufällig fallen Antike und die Entstehung des jüdischen Monotheismus, der auch heute noch die Basis aller drei monotheistischen Religionen wie Judentum, Christentum und Islam ist, in dieselbe Zeitdekade. Fassen wir zusammen: Zivilisation bedeutet: Der weiße Mann herrscht, Kriege gab es schon immer und Gott ist männlich.

Eine matriviviale Gesellschaftsstruktur würde dem Leben wieder Achtung schenken
Zu einem späteren Zeitpunkt wird uns im Unterricht noch Arbeitslehre oder Wirtschaft vermittelt. Nachdem die Menschen sich vom ersten Wirtschaftssektor, der sogenannten Urproduktion oder Subsistenzwirtschaft immer mehr abgekoppelt haben, können sie zunehmend nur überleben, wenn sie für Geld entweder in der Industrie oder im Dienstleistungsgewerbe tätig sind. Dies gilt als Fortschritt. Die Summe der volkswirtschaftlichen Leistungen wird im Bruttoinlandsprodukt (BIP) zusammengefasst, es ist die Summe der inländischen Wertschöpfung. Das BIP gibt angeblich den Gesamtwert aller Güter (Waren und Dienstleistungen) an, die innerhalb eines Jahres hergestellt wurden und dem Endverbrauch dienen. Somit erfasst es alle produktiven Tätigkeiten, aber auch zunehmend „dematerialisierte Spekulationen“. Reproduktionsarbeit als Dienstleistungsgut, d. h. das Aufziehen von Kindern, die Pflege Kranker und Älterer, Hausarbeit, ohne die eine Gesellschaft nicht funktionsfähig ist, wird bewusst nicht in die Wertschöpfung eingerechnet, obwohl es eine Reihe Berechnungen gibt, die zeigen, dass diese Tätigkeiten – umgerechnet Geldwerte – einen nicht unerheblichen Teil des BIP ausmachen würden. Zahlen von 1992 belegen, dass privaten Haushalte in Deutschland durch Gratisarbeit eine Produktionsleistung von 500 Milliarden Euro erbringen und damit aus ökonomischer Sicht eine ähnliche Größenordnung erreichen wie die gesamte Warenproduktion der Landwirtschaft und des verarbeitenden Gewerbes zusammen. Sicherlich ist es kein Zufall, dass der größte Teil der Reproduktionsarbeit von Frauen verrichtet wird.

Die Veränderungsrate des realen BIP dient als Messgröße für das Wirtschaftswachstum der Volkswirtschaften. Auch hier lernen wir: Eine prosperierende Zivilisation beruht auf unendlichem Wirtschaftswachstum. Wir leben zwar auf unserem Planeten in einem geschlossenen System mit endlichen Ressourcen, aber dennoch soll exponenzielles Wirtschaftswachstum möglich sein dank Wissenschaft, Technik und Politikern, die auch nicht müde werden, uns dieses Glaubensdogma einem Mantra gleich vorzubeten.

Herrschaftsmachtbesessene Männer haben unsere Welt an den Rand des Kollaps gebracht und herrschaftsmachtbesessene Frauen würden es nicht anders tun

Unsere Gesellschaft steht also ganz fest auf vier Füßen: Der weiße Mann herrscht, Kriege gab es schon immer, Gott ist männlich und die Möglichkeiten unseres produktiven Wirtschaftswachstums sind unendlich. Diese Gesellschaftsform nennt man Patriarchat, väterliche Herrschaft. Die Basis dieser Gesellschaftsform wird oben zusammengeführt zu einer Pyramide und ist gut für einige wenige, die sich oben an der Spitze befinden. Für die Mehrheit der Menschen jedoch ist diese Gesellschaftsform nicht gut, seien es nun Männer, Frauen oder Kinder, und auch nicht für die Wesen, mit denen wir uns die Erde teilen und damit auch nicht für die Erde selbst.

Nun gibt es viele gesellschaftskritische Bewegungen, die dieses pyramidale Paradigmenfundament infrage stellen. Der Feminismus ist eine von ihnen. Der herkömmliche Feminismus à la Alice Schwarzer hat einiges bewusst gemacht und verändert, er hat die Positionen von Frauen bis zu einem gewissen Grad innerhalb des Systems gestärkt, an der Basis des Systems hat er jedoch nicht gerüttelt. Der Differenzfeminismus hingegen stellt die Basis des Patriarchats grundlegend, d. h. von der Wurzel her infrage. Ihm genügt es nicht, dass Frauen dasselbe machen können wie Männer, denn herrschaftsmachtbesessene Männer haben unsere Welt an den Rand des Kollaps gebracht und herrschaftsmachtbesessene Frauen würden es nicht anders tun. Dem Differenzfeminismus, und dem daraus entwickelten matrivivialen Feminismus, liegt vielmehr das Gedankengebäude vieler Denkerinnen und Denker zugrunde, die aus dem Erfahrungsschatz von Müttern eine andere, an der Fürsorge ausgerichtete Gesellschaftsbasis formulieren. Macht ist dann nicht mehr Herrschaftsmacht, sondern definiert als Seinsmacht, als Macht Leben zu schenken und Leben zu bewahren. Muttersein wird vom herkömmlichen Feminismus als Reduktion interpretiert, tatsächlich ist es ein Privileg, nämlich das Privileg Leben bewusst zu gebären und dann gemeinsam mit fürsorglichen Männern aufzuziehen.

Das Geschichtsverständnis der matrivivialen Denkerinnen beruht auf der Tatsache eines ursprünglichen weltweit verbreiteten Matriarchats, deren Vorhandensein von den meisten Historikern völlig verdrängt, ja sogar negiert wird. Matriarchat nicht in Umkehrung des Patriarchats als Herrschaft der Mütter übersetzt, sondern in der Bedeutung „am Anfang die Mütter“. Da Menschen am Anfang beobachten konnten, dass nur Frauen neues Leben in Form der Geburt schöpfen konnten, waren die ersten Gesellschaften natürlicherweise um die Mütter zentriert. Und so wie aus den Menschenfrauen neues Leben entstand, so konnte bestehendes Leben nur in Abhängigkeit von der Erde gedeihen, die folglich ebenfalls mit den mütterlichen Attributen verbunden wurde. Alle Urreligionen sprechen von Mutter Erde und das ursprünglich Göttliche, das Lebensschöpferische war natürlich weiblich.

Archäologische, ethnologische und mythologische, einschließlich landschaftsmythologischer Forschungen haben ergeben, dass frühere ebenso wie heute noch bestehende Matriarchate nicht kriegs- und herrschaftsbasiert waren respektive sind. Heide Göttner-Abendroth, Marija Gimbutas, Barbara Walker, Edwin O. James, Gerda Weiler, Luisa Muraro, Kurt und Isabelle M. Derungs, Christa Mulack, Irene Fleiss und viele andere haben zu Matriarchaten und zum weltweiten Kult der Großen Göttin umfangreich publiziert. Das in der Schule eingeimpfte patriarchale Weltbild sitzt jedoch so tief, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Wird menschliche Geschichte dagegen vorurteilsfrei betrachtet, erkennt man als Paradigmen: Geschichte ist keine rein männliche Herrschaftsgeschichte, es gab und gibt bis heute an den Müttern orientierte, friedliche, egalitäre Konsensgesellschaften, das Göttliche war ursprünglich weiblich und Wirtschaft muss an Kreisläufe gebunden sein.

Muttersein wird vom herkömmlichen Feminismus als Reduktion interpretiert, tatsächlich ist es ein Privileg

Unsere Welt steckt in einer umfassenden weltweiten Krise: finanz- und wirtschaftspolitisch, ökologisch aber auch moralisch. Von friedensbasierten matriarchalen Kulturformen, von göttinnen- und damit erdbasierten Glaubensformen, von lebenserhaltenden kreisförmigen Wirtschaftsformen und von einer müttermachtbewussten Zeit könnten gerade jetzt gesellschaftserneuernde Impulse für eine echte Zivilisation ausgehen. Eine müttermachtbewusste Zeit macht nämlich, anders als wir in der Schule lernen, den größten Teil der Menschheitsgeschichte aus und da die Erde selbst nun mal eine Mutter ist und Leben damit auf dieser Erde nur auf mütterliche Weise funktioniert, wird die Menschheit, ob sie will oder nicht, sich dieser Werte erinnern müssen, denn nur im Mutterland lebt man, im Vaterland stirbt man.

LITERATUR: