Mohamed Bouazizis Selbstverbrennung als Auslöser einer Zeitenwende?

Von Tunesien über Ägypten nach Saudi Arabien

Von WOLFGANG EFFENBERGER

Am 4. Januar 2011 erlag der 26-jährige Tunesier Mohamed Bouazizi seinen Brandverletzungen. Tage zuvor hatte sich der "Revolutionär wider Willen" aus Verzweiflung über Arbeitslosigkeit und Korruption mit Benzin übergossen und in Brand gesteckt. Die Selbstver­brennung des durch Behördenwillkür erniedrigten Tunesiers gab seinen Landsleuten zunächst ein leuchtendes Beispiel. Das Volk erhob sich und veranlasste den Diktator und Korruptokraten Zine el-Abidine Ben Ali, den Freund des Westens, nach nur wenigen Wochen des Aufruhrs zur Flucht. Dies war nur der Auftakt eines Domino-Effekt, der noch weitere nordafrikanische islamische Staaten erfassen sollte. Eine präzise Analyse der Ereignisse und ein hintergründiger Ausblick.

Anstoß zum Aufruhr: Trauer um den Tunesier Mohamed Bouazizi (Bild: Wikimedia Commons)

 

Am frühen Samstagmorgen, den 15. Januar 2011, berichtete die saudi-arabische Nachrichtenagentur SPA von der Landung der tunesischen Präsidentenmaschine in Dschidda. Wie es weiter hieß, sei Ben Ali dort zusammen mit seiner Familie eingetroffen. Ursprünglich wollte der verjagte Präsident nach Frankreich fliehen; dort lehne jedoch der Ex-Freund Sarkozy die Aufnahme ab.

Der Islamisten­fresser Ben Ali wurde nicht von bärtigen Fundamentalisten vertrieben, vor denen sich der Westen so fürchtet1, sondern von zornigen Säku­laristen, unverschleierten Frauen und vom einfachen Volk. Inzwischen wurde Bouazizi, der "Aufwiegler", zum Vorbild für Millionen Getrete­ne und Entehrte in der arabischen Welt. Seit Mitte Januar kommt es zu Protesten und Straßenschlachten in Ägypten. Die Demonstranten fordern den Rücktritt von Präsident Husni Mubarak, der das Land seit über 30 Jahren mittels Notstandgesetze regiert.

Der Mufti von Saudi-Arabien hatte gepredigt, dass hinter den Demonstrationen in Tunesien und Ägypten die "Feinde des Islam" steckten

Während Washington sich mit schrittweisen politischen Reformen abgefunden zu haben scheint, fordern mitterweile auch Demonstranten in Alexandria den Rücktritt ihres Staatsoberhauptes. Bisher haben die Proteste 297 Tote gefordert.2 Die von Tunesien ausgehenden Schockwellen liefen dann über Algerien, Jordanien, dem Jemen und dem Libanon weiter und scheinen nun auch Saudi-Arabien erreicht zu haben.

Dort sorgten am Wochenende vor allem Äußerungen des Muftis von Saudi-Arabien, Scheich Abdelasis Al-Alscheich, für Unmut. Er hatte anlässlich des Freitagsgebetes gepredigt, dass hinter den Demonstrationen in Tunesien und Ägypten die "Feinde des Islam" steckten. Deren Ziel es sei, die arabischen und islamischen Staaten zu schwächen. Er appellierte deshalb an die Jugend von Saudi-Arabien, sich von diesen "Chaoten" nicht anstecken zu lassen. Daraufhin übten viele Saudis in Internetforen scharfe Kritik an Al-Alscheich: Anstatt die Tunesier und Ägypter zu verdammen, sollte der Mufti besser über die Probleme des eigenen Landes sprechen. Auch hier herrsche eine hohe Arbeitslosigkeit, Armut und Korruption. Schiitische Saudis werden diskriminiert.

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Am Sonntag, den 6. Februar 2011, veröffentlichte der bekannte schiitische Richter und Religionsgelehrte Scheich Hassan Bu Chamsien seine in Hofuf gehaltene Freitagspredigt: "Die arabischen Staaten sind heute alle aufgefordert, den Menschen umfassende Rechte zu gewähren und möglichst rasch politische und wirtschaftliche Reformen umzusetzen, damit sich nicht wiederholt, was in Tunesien und Ägypten passiert ist." Als Staatsreligion ist im absolutistischen saudischen Königreich das konservativ-dogmatische Wahhabitentum in der Verfassung verankert. Im Artikel 23 heißt es: "Der Staat schützt den islamischen Glauben, wendet die Schari'a an, gebietet, was recht ist und verbietet, was verwerflich ist. Er erfüllt die Pflicht, [die Menschen] zum Islam einzuladen."

Neben Pakistan gilt das Königreich als weltweites Zentrum des islamischen Fundamentalismus. Da Demonstrationen generell verboten sind, bieten nur Moscheen, private Versammlungen sowie das Internet Gesprächsforen. Top-Terroristen wie Osama bin Laden stammen aus Saudi-Arabien, ebenso wie 15 der 19 vermeintlichen Attentäter vom 11. September 2001. Mit Afghanistan hingegen (aus dem keine Attentäter der 9/11-Terroranschläge stammen) pflegt das Weiße Haus weiterhin gute Beziehungen. Diese werden weder durch eine undemokratische Regierungsform, noch durch Menschenrechtsverletzungen oder unmenschliche Bestrafungen getrübt.

Saudi-Arabien ist eines der Länder, das für Straftaten wie Mord, Vergewaltigung, Ehebruch, Hexerei, Koranschändung, Gotteslästerung und Glaubensabkehr vom Islam noch immer die Todesstrafe vorsieht

 

Auf die Bevölkerungsdichte bezogen, nimmt Saudi-Arabien einen der ersten Plätze unter den Ländern ein, in denen die Todesstrafe vollzogen wird. Für die US-Regierung war und ist dies kein Stein des Anstoßes (Bild oben: König Abdullah Hand in Hand mit George W. Bush auf dessen Ranch in Texas anno 2005 , darunter mit Obama in Riad am 3. Juni 2009, Bildquelle: Wikimedia Commons)

 

Saudi-Arabien ist eines der Länder, das für Straftaten wie Mord, Vergewaltigung, Ehebruch, Hexerei, Koranschändung, Gotteslästerung und Glaubensabkehr vom Islam noch immer die Todesstrafe vorsieht. Außerdem bei einer Reihe sozialer und sexueller Vergehen (auch Homosexualität). Wer eines dieser Verbrechen begeht, wird nach dem Freitagsgebet öffentlich geköpft. Zur barbarischen Abschreckung werden die toten Körper zur Schau gestellt und eine Stunden liegen gelassen, damit alle vorbeilaufen können.

Die Christen in Saudi-Arabien – ca. eine Million bei 27 Millionen Einwohnern – haben keinerlei Rechte, ihre Religion auszuüben. Ihnen ist es bei Strafe verboten, ein Kreuz aufzuhängen und vor ihm zu beten. Schon der Besitz einer Bibel kann bestraft werden. Sollte der Verdacht aufkommen, dass ein Christ einen Muslim zu bekehren versucht, muss er mit der Todesstrafe rechnen. Das gute Verhältnis zu den USA wird auch dadurch nicht beeinträchtigt, dass zwischen Saudi-Arabien und Israel seit 1948 offiziell Kriegszustand herrscht.3 Ergo müssen die gemeinsamen Interessen sehr stark wiegen.

Als US-Präsident Carter im Juli 1979 islamische Desperados für Afghanistan anwerben ließ, stellte das Königreich rund die Hälfte der Finanzen dafür bereit. Eine verlässliche westliche Stütze ist auch der seit dem Tod von König Fahd zum Kronprinz avancierte Sultan ibn Abd al-Aziz Al Saud. Er bekleidet seit dem 21. Oktober 1962 das Amt des Ministers für Verteidigung und zivile Luftfahrt. So stattet er die Armee des saudischen Königreichs durch Waffengeschäfte mit den USA und Großbritannien zu modernen und gut gerüsteten Streitkräften aus. Ein Großteil von Prinz Sultans Wohlstand soll aus Provisionen staatlicher Waffengeschäfte stammen.

Am 20. November 2010 segnete der US-Kongress ein Rekord-Waffengeschäft mit Saudi-Arabien ab. Dabei handelt es sich um 84 Kampfflugzeuge vom Typ "Eagle15F" der Firma Boeing.4 Zudem sollen 72 dieser Maschinen, die bereits von saudischen Luftstreitkräften geflogen werden, repariert und modernisiert werden. In die Bestellliste wurden ferner 60 Boeing-Kampfhubschrauber vom Typ AH-64D sowie 70 Black-Hawk-Transporthubschrauber vom Typ UH-60 aufgenommen. Dazu ein breites Spektrum von Raketen, Bomben und Delivery-Systemen, ebenso Zubehör wie Nachtsichtgeräte und Radar Warnsysteme.5

Nach Meinung von World Politics Review hat sich das Kräftegleichgewicht in der Region mittlerweile deutlich verschoben. Neben Saudi-Arabien sind auch die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Bahrain, Katar, Oman und Kuwait mit amerikanischen Waffen beliefert worden.6 Bereits Mitte Dezember 2009 hatte US-General Petraeus mit der Aussage überrascht, dass allein die Luftwaffe der VAE es mit der iranischen aufnehmen könne. Auch im aktuellen Jahrbuch des Stockholmer Friedensforschungsinstitut (SIPRI) wird die Rolle der Golfstaaten als bedeutende Importeure konventioneller Waffensysteme deutlich gemacht.

Am 20. November 2010 segnete der US-Kongress ein Rekord-Waffengeschäft mit Saudi-Arabien ab

Nach dem 11. September erschienen mit einem Mal die weltumspannenden Spenden und Moscheebauten, so die König-Fahd-Moschee in Sarajevo, in einem ganz anderen Licht. Die islamischen Geister, die von den USA zu Zeiten des Kalten Krieges gerufen und instrumentalisiert wurden, tauchen nun ebenso siegeshungrig wieder auf. Doch die Islamisten scheinen nicht das vorrangige Problem zu sein. Die Bärti­gen sind jedoch zuerst einmal Symptom für die Enttäuschung der Araber über den West-Opportunismus gegenüber den Ben Alis, Mubaraks und Abdullah.

Noch ist keine echte Revolu­tion aus dem zorni­gen Aufruhr in der arabischen Welt geworden. Es könnte sich daraus jedoch eine Zeitenwende wie der Zusammen­bruch der UdSSR und des gesamten Ost­blocks entwickeln. "Auf jeden Fall nimmt das von seinen Herrschern wie vom Westen glei­chermaßen enttäuschte Volk seine Sache jetzt erst einmal selbst in die Hand. Parolen, Sterne, Molotow-Cocktails. Jahrzehn­te der Armut, Unterdrückung und Kor­ruption –  lang haben sie geschwiegen. Jetzt begehren sie auf."1

Auch wollen die arabischen Menschen nicht mehr hören, dass der Westen alles besser weiß und sich dann geflissentlich mit den Auto­kraten arrangiert. Sie empfinden die doppelte Moral des Westens als unehrlich und abstoßend. Sie durchschauen, dass die westlichen Geschäfts- und Sicherheitsinteressen wichti­ger sind als die vielbeschworenen Werte. Das lässt sich auch am Verhalten der Obama-Administration ablesen. Der US-Präsident hofft, dass Mubarak die richtige Entscheidung trifft und dass "aus dieser Zeit des Aufruhrs" eine "Zeit der Chancen" werde. In diesem Sinne forderte auf der Münchner Sicherheitskonferenz US-Außenministerin Clinton die Staaten zwischen Nordafrika und dem Nahen Osten zu Reformen auf. Konkrete Forderungen an einzelne Staaten oder Politiker stellte sie nicht.

Nach Aussage von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) stünden Deutschland und Europa klar auf Seiten der Reformer in Ägypten. Weiter orakelte die Kanzlerin: "Es wird in Ägypten eine Veränderung geben."7 Auch sei es eine Pflicht der westlichen Regierungen, sich für den Erhalt der Meinungs- und Pressefreiheit einzusetzen. Die ägyptischen Verantwortlichen seien aufgefordert, das zu sichern, betonte Merkel. Hier wäre zu fragen, wer sich um deut­sche Tabus, deutsche Denkverbote und die überall anzutreffende politische Korrektheit in unserem Land sorgt? Frau Steinbach und die Herren Jenninger, Hohmann, Sarrazin und Walser lassen grü­ßen. 

Nach Aussage von Kanzlerin Merkel stünden Deutschland und Europa klar auf Seiten der Reformer in Ägypten
Da die westlichen Politiker anscheinend von ihrem Doppelsprech nicht ablassen können oder wollen, ist ein erneuter Krieg mit Israel und sogar eine US- und NATO-Militärintervention in Ägypten letztendlich nicht auszuschließen. Als im Jahr 1956 der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser den Suezkanal verstaatlichte, griffen die Briten, die Franzosen und die Israelis gemeinsam Ägypten an. Auch das wird vielen Ägyptern noch in Erinnerung sein. Nun könnten die USA und die NATO zur Wahrung ihrer Interessen das Gleiche tun. General James Mattis, in dessen zentralen US-Regionalkommandos CENTCOM der Suez-Kanal liegt, sagte, dass sich die USA mit Ägypten "diplomatisch, wirtschaftlich, [und] militärisch"8  beschäftigen würde. Ein Militäreinsatz der CENTCOM könnte dann in der gesamten Region einen nachhaltigen Flächenbrand auslösen.

 

ANMERKUNGEN
    1. Quelle: Tomas Avenarius: Mehr als ein Volk, in SZ vom 29./30. Januar 2011, S. V2/1
    2. Quellen: "The Price Of Protest: 297 Reportedly Killed In Egypt Unrest So Far"; "Protesters Reportedly Seek Mubarak Trial"; "U. S. Won't Endorse Protesters' Demands"; "Google Executive Released"; "Will U.S. Always Support 'Useful Autocrats'?" sowie "Police Shoot Protester" in der Huffington Post vom 8. Februar 2011
    3. Quelle: "Saudi-Arabien: Kein Händedruck mit Israelis" auf www.focus.de am 27. November 2007
    4. Quelle: Ewen MacAskill: US Congress notified over $60bn arms sale to Saudi Arabia. Obama administration intends to make biggest ever US arms deal with Saudis, in The Guardian vom 21. Oktober 2010
    5. Siehe Reuters-Analyse: "Saudi deal could be first of more Gulf U.S. arms pacts"
    6. Der amerikanische Rechnungshof "US-Government Accountability Office" (GAO) kritisiert in seinem Report vom September 2010 die lasche Überprüfung derartiger Waffenexporte.
    7. Quelle: "Merkel: Auf der Seite des Protests", in ZDF text heute-Nachrichten vom 5. Februar 2009
    8. Quelle: Adrian Croft: U. S. sees Suez Canal closure as inconceivable, eds. Peter Griffiths and Elizabeth Fullerton, Reuters, 1. Februar 2011