Der Systemfehler hinter der Bankenpleite

Eine Chronologie der Ereignisse und ein Weg aus der Krise

Von KLAUS POPP

Die westlichen Zentralbanken lassen mit Lehman Brothers die erste Großbank pleite gehen und bekommen gleich kalte Füße. Die US-Regierung subventioniert das kapitalistische Bankenwesen mit mehreren hundert Milliarden Dollar. Die europäischen Regierungen sind nach anfänglichen Milliardensubventionen zögerlicher. Ein Konzept zum Umgang mit dem freien Kapitalmarkt oder ein Verständnis für die Ursachen der Krise sind nicht zu erkennen.

Im Sommer 2007 bricht im Zentrum der westlichen Welt die schwerste Finanzmarktkrise seit der Großen Depression Anfang der 30er Jahre aus. Über Nacht purzeln die Preise von festverzinslichen Wertpapieren, die sich nicht auf den Namen einer Bank oder Regierung, sondern auf US-Hypothekenkredite stützen. Mit den Preisen der Immobilienpapiere schwindet zugleich das Vertrauen unter den Banken. Zunächst springen in der EU und den USA die Zentralbanken mit zusätzlichen Krediten ein und zeigen, wie reibungslos sich das Vertrauen zwischen den Banken zunächst durch das „Vertrauen“ der Notenbanken in die Privatbanken ersetzen lässt. Die EZB, die Federal Reserve und schließlich auch die Bank of England verleihen das Geld, das sich Banken untereinander nicht mehr zu geben bereit sind. Dieses Provisorium scheint zu funktionieren. Bankzusammenbrüche bleiben erst einmal aus.

Dennoch breitet sich Misstrauen aus. Nicht nur ein isoliertes Marktsegment kollabiert. Weitere Teile des Kapitalmarktes werden in die Tiefe gerissen. Im Herbst folgt ein Schub dem nächsten. Die Aufgabe des Staates kann nicht länger darauf begrenzt werden, die Märkte durch ständig flexibler ausgestaltete Zentralbankkredite flüssig zu halten. Erste Milliardenverluste müssen mit öffentlichen Geldern beglichen werden.

Die Kapitaldecken der westlichen Finanzzentren schmelzen dahin wie das Eis am Nordpol

Zu diesem Zeitpunkt glauben die Finanzpolitiker und Zentralbanker der westlichen Welt noch, die durch Preisstürze einiger Wertpapiere verursachte Schieflage von einzelnen Kreditinstituten, durch Haftungsgarantien oder vorübergehende Verstaatlichung, weitgehend eindämmen zu können. So geschehen bei der Sachsen LB oder der IKB in Deutschland sowie den ersten Verlusten der großen Immobilienfinanzierer Freddie Mac und Fannie Mae in den USA oder Northern Rock in England. Doch immer mehr kristallisiert sich heraus, dass nicht nur irrationale Preisschwankungen von Wertpapieren und ein ungeschicktes Liquiditätsmanagement ein paar Institute in die Knie zwingen, sondern dass den Preisstürzen auch tatsächlich der Ausfall von Zins- und Tilgungszahlungen der US-Immobilienbesitzer in großen Maßstab folgt. Die Krise hat einen deutlich rationaleren Kern als zunächst angenommen oder gehofft.

Noch zum Jahreswechsel 2007/2008 geben sich die Eliten in westlichen Finanzministerien und Zentralbanken weiter optimistisch. Bundesbankpräsident Weber meint, dass es neben weiteren nicht näher erläuterten Maßnahmen zur Verbesserung der Transparenz ausreiche, wenn die Ratingagenturen neben der Solvenzrisikoskala eine Liquiditätsrisikoskala für „strukturierte Produkte“ einführten. Die EZB und ihre nationalen Zentralbanken sprechen auch weiterhin nicht ein einziges Mal von „Krise“. Ihrer Sicht nach handelt es sich noch immer um – zugegebenermaßen etwas plötzliche – „Marktkorrekturen der Risikoaufschläge“ einzelner Wertpapiere. Wäre die neue internationale Bankenrichtlinie Basel II schon früher in Kraft getreten – so eine ebenfalls häufig geäußerte Behauptung von Zentralbankern – so wäre das alles nicht passiert. Kein Finanzminister oder Notenbanker sieht sich gezwungen, grundsätzlichen Diskussionsbedarf zu unserer Wirtschafts- und Finanzverfassung anzumahnen.

Dennoch: Die Krise zeigt sich von diesem Optimismus unberührt. Nicht nur dass immer mehr Steuermilliarden in den total überdehnten und nun von der Implosion bedrohten Kapitalmärkten verschwinden. Auch die großen westlichen Banken wie UBS, Citigroup, Merrill Lynch, HSBC oder Wachovia müssen eine Milliarde nach der anderen in den Wind schlagen. Die Kapitaldecken der westlichen Finanzzentren schmelzen dahin wie das Eis am Nordpol. Als dann noch die Société Générale im Januar Daxfutures für 50 Mrd. Euro aufgrund eines (durch hohen Leistungsdruck möglicherweise mit verursachten) Betrugsfalls innerhalb weniger Stunden verkaufen muss und dabei 5 Mrd. Euro in den Sand setzt, gehen schließlich auch noch jene Börsenindizes wie der DAX oder EUROSTOXX in die Knie, die sich bisher noch recht gut behaupten konnten. Bis heute haben sich die Kurse nicht von diesem Schlag erholt.

Zwei Monate später, im März, schickt sich Bear Stearns, eine der fünf großen (mittlerweile ehemaligen) amerikanischen Investmentbanken an, den amerikanischen Hausbesitzern in den Ruin zu folgen. Finanzministerium und Notenbank der USA verhindern dies jedoch, indem der drittgrößten amerikanischen Kreditbank, der JP Morgan Chase, mit milliardenschweren Haftungsgarantien die Fusion schmackhaft gemacht wird. Anfang September gilt es dann zusätzliche 2- bis 3-stellige Milliardenverluste der US-Hypothekenfinanzierer Freddie Mac und Fannie Mae „aufzufangen“. Auch hier kommt der amerikanische Steuerzahler für den Schaden auf.

Die Ursache der Bankenkrise ist eine Geldpolitik, die darauf beharrt, grenzenloses Wachstum und Stabilität miteinander vereinbaren zu wollen

Im September 2008 verweigert dann erstmals der US-Finanzminister Hank Paulson der inzwischen ebenfalls insolventen Investmentbank Lehman Brothers weitere Staatsgelder. Er versucht damit klarzustellen, dass auch der Staat nicht einfach 100-te von Milliarden übrig hat, die er den zusammenklappenden Banken hinterherwerfen kann. Die Volumen der Bankbilanzen sind schlicht zu hoch, als dass die westlichen Staaten in der Lage wären, die unbegrenzte Aufrechterhaltung des Finanzsystems zu gewährleisten. Man hofft ein Exempel statuieren zu können. Dennoch ist die so gezogene Schlusslinie zwei Tage später wieder hinfällig: Einer der weltgrößten Versicherungsgruppen, die AIG, ist am Ende. US-Finanzministerium und die Federal Reserve sehen sich erneut gezwungen, gegen Verstaatlichung einen 85-Mrd.-Dollar-Kredit zur Verfügung zu stellen, ohne dass die Rückzahlung als gesichert angesehen werden darf. Nun ringt sich Paulson dazu durch, mit einem Notfallplan über 700 Mrd. Dollar das Bankensystem von wertlosen Krediten freikaufen zu wollen. Noch ein Bankrott einer Großbank wie Lehman wäre der sichere Beginn eines Domino-Effektes geworden. Gesunde Firmen und Finanzinstitute würden über ihre Beteiligungen an und Einlagen bei den kollabierenden Riesen mit in die Tiefe gerissen. Es geht mittlerweile um nichts weniger, als den Zusammenbruch des gesamten Finanzsystems abzuwenden.

Trotz des Rettungspaketes bleibt unklar, ob das weltweite Finanzsystem überhaupt die Lehman-Pleite verkraften wird. Mit einer Bilanzsumme von zuletzt knapp 640 Mrd. US-Dollar (zurzeit etwa 440 Mrd. Euro) war die renommierte Wall-Street-Bank nur unwesentlich kleiner als die jüngst hinwegfusionierte Dresdner Bank mit 500 Mrd. Euro und etwa so groß wie die LBBW, die größte deutsche Landesbank, mit circa 440 Mrd. Euro Bilanzsumme. Mit einer Staatsgarantie hätte sich das Loch in der Bilanz der ehemals viertgrößten Investmentbank der USA vermutlich noch im 2-stelligen Mrd.-Bereich bewegt. Durch die Insolvenz könnte es aber am Ende auf 200 bis 300 Mrd. Dollar (140 bis 210 Mrd. Euro) anwachsen. Dies entspräche fast den gesamten Steuereinnahmen des Bundes in Deutschland in Höhe von 240 Mrd. Euro. Daher ist wohl auch George Soros, dem populärsten Finanzjongleur der Welt, zuzustimmen, dass es sich erst noch zeigen muss, ob nun der Bankrott der Lehman Brothers zum Totalzusammenbruch des Finanzsystems führen wird – oder ob die Entscheidung von Paulson „richtig“ war.

Bleibt die Frage nach den Ursachen der Finanzkrise. Wo sind die eigentlichen Unzulänglichkeiten des Finanzsystems zu suchen? Ist es ausreichend den Grund für die Krise in der grenzenlosen Gier der Investmentbanker und den unregulierten Märkten oder gar nur in der mangelnden Transparenz zu suchen? Angesichts der Dimension ist es nahe liegend, die Ursachen in der grundsätzlich destruktiven Dynamik des Geldwesens zu erkennen.

Die Ursache der Bankenkrise ist eine Geldpolitik, die darauf beharrt, grenzenloses Wachstum und Stabilität miteinander vereinbaren zu wollen. Dabei lernt schon jedes Kind beim Spielen mit Bauklötzen, dass dies unmöglich ist. Die Vermögen und Schulden wachsen durch Zins- und Zinseszins ständig schneller an, als die Leistungskraft der westlichen Industrienationen. Daher kann es nicht verwundern, dass bei dem schon seit Jahren zu verzeichnenden Auseinanderdriften von realen und monetären Größen den Geschäftsbanken gar nichts anderes übrig bleibt, als ständig riskantere Kredite zu vergeben. Hinter dem Problem des ständig wachsenden Risikos steckt das Problem des exponentiellen Anschwellens von Geldvermögen und Schulden durch Zins und Zinseszins.

Es braucht einen Mechanismus, der das Horten von Liquidität unattraktiv macht

Zugleich geht mit den wachsenden Vermögen einher, dass die Summe der Reallöhne, mit dem die tatsächlich geleistete Arbeit entlohnt wird, kleiner wird. Dadurch sinkt die reale Kaufkraft der Arbeitseinkommen und reale Investitionen lohnen sich immer weniger. Das Geld muss daher immer mehr über Spekulation verdient werden. Das Finanzgebaren der Banken wird unvermeidlich riskanter. Dies sind die blinden Flecken der Ökonomie und damit der modernen Industrienationen. Solange dieser Zusammenhang nicht thematisiert wird, können die Ursachen der Finanzkrise auch nicht gelöst werden. Jeder autonome Regulierungsversuch der Banken, der bei Eigenkapitalquoten und Transparenzbestimmungen endet, bleibt zum Scheitern verurteilt.

Es braucht zunächst eine Währung, die auch bei einem Zinssatz um Null zirkuliert und einen Mechanismus, der das Horten von Liquidität so unattraktiv macht, das kein Spielraum für die zerstörerischen Spekulationsgewinne entsteht. Nachzulesen ist dies bei John Maynard Keynes und Silvio Gesell (siehe auch zeitgeist-Ausgabe 1-2007). Letztlich verantwortet die westliche Geldpolitik das sich abzeichnende Desaster. Es ist zu hoffen, dass die westlichen Finanzminister und Zentralbanker ihre ignorante Haltung zu den Ursachen der Katastrophe aufgeben. Sie müssen über ihren ideologischen Tellerrand blicken, um ihre Geldpolitik zu modernisieren. Auch wenn das Finanzsystem die Pleite von Lehman überleben sollte, ist damit von den tief greifenden Verwerfungen des modernen Finanzkapitalismus nicht ein einziges Problem wirklich gelöst. Solange keine grundsätzlichen Fragen gestellt und ohne Scheuklappen beantwortet werden, braucht es niemanden wundern, wenn noch weitere Banken dem Beispiel Lehmans folgen, die 700 Mrd. US-$ bald verfrühstückt sind und uns die Finanzkrise entweder bis auf Weiteres erhalten bleibt oder sich spätestens in fünf Jahren mit erneuter Heftigkeit zurückmelden wird.

 

LITERATUR: